Lehmann, Sebastian
wenn mein Vater es schafft, eine SMS zu schreiben.«
»Mein Vater ist Professor für Informatik.«
Ich dachte, ihre Eltern wären Hippies? Na ja, vielleicht schließt sich das nicht unbedingt aus. Christina öffnet diebeiden Boxen und pfeffert die Plastikdeckel einfach in eine Ecke ihres Zimmers.
»Willst du lieber Schwein oder Garnele?«
»Ich dachte, das Essen ist von einem veganen Restaurant?«
»Ja klar. Veganes Schweinefleisch und vegane Garnele natürlich.« Sie schiebt mir eine der Boxen herüber, ich glaube, die mit »Garnele«.
»Jedenfalls hat mein Dad vorgeschlagen, dass ich zurück nach Konstanz gehe und dort meinen Master in Kommunikationsdesign mache.« Sie wühlt mit ihren Stäbchen in der Plastikbox herum, spießt ein paar »Fleischstücke« auf und schiebt sie sich in den Mund.
Ich fühle mich wie erschlagen. Da verschläft man mal einen Tag, und schon ist so viel passiert, dass man gar nicht mehr auf dem Laufenden ist.
»Vielleicht ist das gar keine so schlechte Idee von meinem Vater«, redet sie unbefangen einfach weiter. »In Berlin finde ich bestimmt keinen guten Job, und ich will nicht unbedingt Bubble-Tea verkaufen.«
»Aber in Konstanz gibt es bestimmt nicht mal Club Mate!« Entsetzt lege ich mich hin und schließe meine Augen. Am liebsten würde ich einfach wieder einschlafen, vielleicht wache ich dann auf, und alles war nur ein Traum. Christina kann doch nicht einfach aus Berlin weggehen, kürzlich meinte sie sogar noch, es existiere wahrscheinlich gar kein Leben außerhalb dieser Stadt. Ich öffne meine Augen wieder, ich bin viel zu nervös, um einzuschlafen. Das kommt auch selten vor.
»Aber gerade jetzt, wo wir zusammen …« Wieder einmal beschließe ich, einen Satz nicht zu beenden.
»Du kannst ja mitkommen.« Das sagt sie einfach so dahin, ohne sich die ganzen Konsequenzen klarzumachen. Irgendwelche Konsequenzen in ferner Zukunft scheinen Christina grundsätzlich nicht zu interessieren. Im Moment interessiert sie sowieso vor allem ihr Essen, und sie schaufelt die Nudeln mit dem »Schweinefleisch« in sich hinein. Ich habe überhaupt keinen Hunger, schon gar nicht auf vegane Garnelen.
Aus Berlin weggehen – daran habe ich schon sehr, sehr lange nicht mehr gedacht. Eigentlich habe ich noch nie daran gedacht, glaube ich. Aber ja, könnte ich. Gar nicht so abgefahren, der Gedanke. Obwohl, doch. Aber vielleicht ist das gerade gut. Da laufen im Moment viel zu viele Handlungsstränge in meinem Leben nebeneinander. Ob ich die alle irgendwie wieder zusammenbekomme? Oder ergeht es mir am Ende wie David Lynch bei Twin Peaks , der angeblich vor lauter seltsamen Figuren, rätselhaften Ereignissen und widersprüchlichen Phänomenen vollkommen den Überblick verloren hatte, so dass er die Serie einfach abbrechen musste? Ich rekapituliere kurz die ganzen komischen Vorkommnisse der letzten Zeit:
1. Mein Freund und Chef ist in die Sächsische Schweiz abgehauen und wahnsinnig geworden, weswegen ich zum Chef der Kleinanzeigenabteilung befördert wurde.
2. Ich darf endlich einen richtigen Artikel schreiben. Allerdings ist das Thema vollkommener Schwachsinn, und bis jetzt habe ich so gut wie nichts geschrieben.
3. Meine alte Band wird wieder voll hip, und wir bekommen einen Plattenvertrag angeboten. Aber mein ehemaliger Bandkollege meldet sich nicht.
4. Der Plattenvertrag wird mir von der Plattenfirma angeboten, die gerade meine Freundin gefeuert hat.
5. Meine Freundin will nach Konstanz ziehen.
6. Der Mitbewohner meiner Freundin ist verschwunden.
7. Mein bester Freund hat ein Kind bekommen, das ich sehr niedlich finde.
8. Menschen werden von Neukölln nach Tiergarten verschleppt. Vielleicht.
9. Auf einer Kassette ist die Lösung für all meine Probleme drauf, aber leider existieren keine Kassettenrekorder mehr.
10. Da war doch noch was, aber das fällt mir gerade nicht ein.
Vielleicht wäre es wirklich besser, einfach einzuschlafen. Tatsächlich macht mich diese Überfülle komplizierter Probleme ziemlich müde. Und Twin Peaks wurde wahrscheinlich auch einfach abgesetzt, weil es zu wenig Leute geguckt haben. Ich schließe meine Augen und …
»Mark, du schläfst doch nicht schon wieder ein?«
Christina rüttelt an meinem Arm, und ich schrecke auf. Ach ja, das war der wichtigste Handlungsstrang – wie konnte ich den vergessen? –: Ich bin verliebt. Von diesem kitschigen Gedanken bekomme ich feuchte Augen, aber Christina merkt zum Glück nichts, da sie schon wieder an was anderes
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