Lehmann, Sebastian
renoviert und mindestens fünf Stockwerke hoch, soweit man das bei der Dunkelheit erkennen kann. Komischerweise erinnert mich die Rütli-Schule an meine eigene Schule, das war mir bis jetzt noch gar nicht aufgefallen. Ich muss an die tristen Vormittage denken, die ich dort im Dämmerzustand zubrachte, aus dem Fenster auf den ebenfalls von hohen Bäumen eingerahmten Schulhof starrend.
»Sehen eigentlich alle Schulen gleich aus?«, frage ich Christina.
»Keine Ahnung, seit der fünften Klasse war ich auf einem Internat, das sah jedenfalls anders aus.«
»Schloss Salem am Bodensee?«
»Woher weißt du das?«
Wie in dem Buch von Christian Kracht, das auch bei Christina im Bücherregal steht, denke ich.
Wir sind vor der großen Eingangstür der Rütli-Schule angekommen und müssen feststellen, dass sie abgeschlossen ist.
»So eine Scheiße«, flüstert Christina und rüttelt an der Tür. »Das hätten wir uns eigentlich denken können.«
Wir drücken unsere Gesichter an die Glasscheibe des Fensters neben der Tür und sehen ein großes Klassenzimmer im Erdgeschoss. Im schummrigen Licht ist jedoch kaum etwas zu erkennen: Stühle, die auf Tischen stehen, eine Tafel, alles vollkommen normal.
»Wir müssen da irgendwie rein.« Christina stemmt ihre Arme in die Hüften.
»Wir können ja morgen früh wieder herkommen, wenn Unterricht ist.«
Sie schaut mich skeptisch von der Seite an. »Da werden wir wohl kaum was finden. Hast du etwa Schiss?«
»Nein«, lüge ich.
Christina schnaubt verächtlich, und wir gehen wieder ein Stück zurück, an einem hohen Zaun am Schulhof entlang. Hier soll wohl niemand rein- oder rauskommen. Mich würde es nicht wundern, wenn wir gleich noch an einem Wachturm vorbeikommen würden oder an einem Checkpoint: »You are now leaving the Hipstersector.« Aber zum Glück treffen wir niemanden. Irgendwelche Kapuzenpulliträger mit Schießbefehl zum Beispiel.
»Da können wir rüber!«, Christina deutet auf einen Baum, der direkt am Zaun steht.
»Ich klettere da jetzt doch nicht hoch!«, zische ich. »Ich bin einunddreißig Jahre alt, da hüpft man nicht mehr auf Bäumen rum!«
»Ach, komm! Wer ist denn hier der Mann?«
»Was sind denn das für überkommene Geschlechtervorstellungen?«
»Du willst jetzt nicht über Genderpolitik diskutieren, oder?«, sagt Christina und hangelt sich schon an dem Baum hoch, hakt ihre Turnschuhe im Zaungitter ein, gleitet hinüber und springt auf den Schulhof. Das sah eigentlich ziemlich einfach auf.
»Wir könnten auch einen Tunnel graben«, schlage ich vor.
»Mach, dass du endlich rüberkommst!«
»Ist ja gut.« Ich tue es Christina gleich und stehe ein paar Sekunden später neben ihr auf dem Schulhof.
»Du machst so was gern, was? Auf fremden Grundstücken rumspionieren und so.«
»Na klar, ich bin ja auch ein großer Fan der Drei Fragezeichen.«
»Ich hab früher nur Biene Maja geschaut«, sage ich und versuche, mich in der Dunkelheit zu orientieren. Hier ist es noch düsterer, nirgendwo brennt Licht, alle Klassenzimmerfenster sind dunkel.
»Wahrscheinlich war Willi dein Vorbild? Ist der in der Bienenschule nicht sogar sitzengeblieben?«
»Zweimal hintereinander. In der ersten Klasse. Trotzdem konnte Willi auch krasse Sachen, zum Beispiel während des Fliegens schlafen …« Aber Christina hört mir schon garnicht mehr zu und schleicht über den Hof zur Rückseite der Schule. Mir bleibt mal wieder nichts anderes übrig, als ihr zu folgen.
»Was war denn das?«, ruft sie plötzlich viel zu laut und deutet auf ein Fenster im zweiten Stock. Erschrocken greife ich nach ihrer Hand. »Da war gerade ein Schatten oder so. Aber vielleicht hab ich mich auch geirrt.«
»Wir sollten jetzt wirklich gehen«, versuche ich es noch einmal, auch wenn mir schleierhaft ist, wie ich von dieser Seite wieder über den Zaun kommen soll.
»Wie würde wohl die Folge heißen, wenn das ein Fall der Drei Fragezeichen wäre?«
»Das hier ist leider Realität«, sage ich genervt. »Hier kommt nicht Alfred Hitchcock und sagt uns, was wir tun sollen.«
»Du bist ja noch ängstlicher als der zweite Detektiv.« Christina zieht mich weiter und murmelt im Tonfall von Justus Jonas: »Es muss doch irgendwo einen Hintereingang geben.«
Und tatsächlich entdecken wir eine schmale Glastür, die in ein kleines Treppenhaus führt. Ich bete, dass hier ebenfalls abgeschlossen ist, aber als Christina vorsichtig den Griff herunterdrückt, gibt die Tür sofort nach.
»Na also«, flüstert
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