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Lehmann, Sebastian

Lehmann, Sebastian

Titel: Lehmann, Sebastian Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Genau mein Beutelschema
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denkt und aufgeregt auf ihrem Laptop rumklickt.
    »Wir müssen dieser Sache nachgehen, Marky. Wir wurden fast umgebracht!«
    »Jetzt übertreib mal nicht, ich meine, wir waren betrunken – sehr, sehr betrunken –, und bestimmt sind wir selbst nach Tiergarten gefahren und können uns einfach nicht mehr daran erinnern.«
    »Und was ist mit Dr. Alban?«, ruft Christina aufgebracht. »Dem ist das Gleiche passiert. Und du hast doch auch schon von diesen komischen Vorfällen erzählt!«
    »Jaja, trotzdem kann das nicht sein! Du hast selbst gesagt, der Doktor wäre betrunken und was weiß ich noch gewesen.«
    Christina schüttelt den Kopf und setzt mir den Laptop auf den Schoß. »Schau mal, ich habe den ganzen Tag recherchiert.«
    Ich scrolle durch die unzähligen Blogs und Facebook-Einträge, alles Berichte von jungen Neuköllnern, die mit einer großen Beule am Hinterkopf in Tiergarten aufgewacht sind.
    »Siehst du«, ruft Christina triumphierend, als ich wieder vom Laptop aufschaue. »Die wohnen da bestimmt nicht alle!«
    »Also …«, sage ich, mehr fällt mir nicht ein. Natürlich hat sie recht.
    »Willst du das eigentlich nicht mehr essen?« Sie deutet auf das vegane Asia-Essen, das ich ganz vergessen habe.
    »Doch.« Ich öffne die Box und bugsiere mit einem Stäbchen eine dieser falschen Garnelen in meinen Mund. »Das schmeckt ja wirklich wie Garnele«, sage ich. »Richtig gut.«
    »Das ist aber Schwein«, sagt Christina.
    Ich gehe zum Fenster, setze mich auf die Fensterbank und esse dort weiter. Draußen auf der Straße steht ein junger Typ, der aussieht wie Bob Dylan in den sechziger Jahren: Er trägt Hochwasser-Röhrenjeans, eine Wildlederjacke, eine schwarze Ray-Ban, selbst der Lockenkopf stimmt. Ich muss schon wieder an diese Songzeile denken: »Something is happening here, but you don’t know what it is.«
    »Was denkst du?«, fragt Christina, und eigentlich antwortetman auf so eine Frage ja nicht, mich wundert, dass sie mich das überhaupt fragt.
    »Mein Leben in Berlin scheint auseinanderzufallen – wir wachen mitten in der Nacht auf U-Bahnhöfen auf, Gary ist verschwunden, du willst vielleicht sogar aus Berlin weggehen, nichts ist mehr echt, nicht mal das Essen. Trotzdem fühle ich mich wohl, es ist dieser Schauder des Mystischen, denn im Grunde gibt es keine Geheimnisse mehr, steht ja alles im Internet. Aber vielleicht bilde ich mir das auch nur ein.«
    »Du nimmst die ganze Zeit alles wieder zurück«, sagt Christina, und ich glaube, wir sind mitten in einem ziemlich ernsten Gespräch. »Du sagst immer noch schnell dazu: ›Könnte aber auch sein, dass ich mir alles nur einbilde.‹ Oder: ›Vielleicht stimmt das auch nicht …‹ oder so. Damit bist du doch am wenigsten echt.« Sie macht mit ihren Händen Anführungszeichen um das Wörtchen »echt«. »Aber um so authentische Scheiße geht es eh nicht mehr. Du weißt einfach nicht, was du wirklich willst. Außerdem sind wir in echt verschleppt worden.«
    Ich nicke und sage nichts mehr. Aber worum soll es sonst gehen, wenn nicht um das »Echte«? Mir fällt nichts ein.
    »Würdest du mitgehen nach Konstanz oder irgendwo anders hin?«, fragt sie leise.
    Ich hasse so konkrete Fragen. Und natürlich weiß ich es nicht, keine Ahnung.
    Plötzlich ein Schrei von der Straße, Christina und ich hechten zum offenen Fenster, lehnen uns hinaus und sehen gerade noch, wie Dylan von mehreren Kapuzenpulliträgern in den Hauseingang neben der Bubble-Tea-Kaschemme gezogen wird. Dann ist es wieder still.
    »Krass! Siehst du!«, ruft Christina. »Wir müssen was unternehmen!«
    Ich starre noch immer schockiert aus dem Fenster. Christina hat wirklich recht.
    »Hast du gesehen, was auf den Pullis stand?«, fragt sie und dreht sich zu mir um. Ich schüttle den Kopf.
    »Rütli-Schule.«

17
Der UNSICHTBARE Gegner
    Es ist bereits dunkel, als wir die zwei riesigen grünen Froschskulpturen passieren, die seltsamerweise den Eingang zum »Campus Rütli« bilden, wie sich die Schule seit dem Skandal vor ein paar Jahren nennt, als Lehrer sich mit einem sogenannten Brandbrief über die schrecklichen Zustände bei ihnen an die Öffentlichkeit wandten.
    Langsam schleichen wir uns auf den Vorplatz. Hohe Bäume verschlucken fast gänzlich das schummrige Licht der Straßenlaternen, außerdem scheint es hier deutlich kälter zu sein. Irgendwo bellt ein Hund. Ich schlage den Kragen meiner Jacke hoch und folge Christina zum großen Hauptgebäude, einem alten Jugendstilbau, frisch

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