Lehmann, Sebastian
poltert mit Rollkoffern über das Kopfsteinpflaster. Als wir an der Kurfürstenstraße ankommen, fährt gerade die erste U-Bahn ein, wir setzen uns neben die frischgeduschten und wohlriechenden Frühaufsteher, und es geht zurück nach Neukölln.
Der Hermannplatz erstrahlt im sommerlichen Sonnenschein, obwohl es nach meiner persönlichen Zeitrechnung noch mitten in der Nacht ist. Christina macht mit ihrerHandykamera ein Foto von der Sonne, die sich an einer der Hausfassaden spiegelt, und bearbeitet es dann mit ihrer Vintage-App. Das veränderte Foto sieht gar nicht anders aus als die Wirklichkeit.
Wir laufen zurück zum Papa, das schon längst geschlossen hat, und suchen die Umgebung ab, keine Ahnung, wonach. Die Straßen sind wie ausgestorben, keine Kapuzenpullijugendlichen oder Hipster weit und breit. Aber auf einmal sehen wir den Alten. Er steht immer noch bewegungslos an der gleichen Stelle wie vor Stunden, und ich glaube sogar, seine Augen sind geschlossen.
»Hey, Sie«, ruft Christina und tippt ihm mit dem Finger auf die Schulter. »Haben Sie hier letzte Nacht etwas Seltsames gesehen?«
Die glasigen Augen des Alten öffnen sich langsam, und er schielt konzentriert etwa einen halben Meter an uns vorbei.
»Oh, ich habe in meinem Leben viel Seltsames gesehen«, krächzt er und muss dann husten. Er zieht seinen Hertha-BSC-Schal etwas enger um den Hals, holt eine fertiggedrehte Zigarette aus der Brusttasche seiner Lederweste und steckt sie in den Mund. Christina gibt ihm Feuer, und er pafft bedächtig ein paar Züge, ohne die Zigarette aus dem Mund zu nehmen.
»Was haben Sie denn gesehen?«, fragt Christina in sanftem Ton.
»Ich war dabei«, sagt der Alte.
»Das sagt er immer«, sage ich.
»Ihr kennt euch?« Christina blickt mich erstaunt an.
»Na ja, wir haben uns schon ein- oder zweimal unterhalten, aber …«
»Ich war dabei«, unterbricht mich der Alte. »Ich war dabei, als Palais Schaumburg eine neue Stadt bauten, ich war dabei, als die Einstürzenden Neubauten saniert wurden, und ich war sogar noch dabei, als die Mauer gefallen ist und wir erst mal keine Lust hatten, nach drüben zu gehen. Aber jetzt …«, der Alte hält inne und pafft uns Rauch in die Gesichter, »muss ich gehen. Hier gibt es nichts mehr für mich.« Er dreht sich behäbig um und schlurft davon.
Wir blicken ihm lange nach, bis er schließlich im Dunst des frühen Morgens hinter der Rütli-Schule verschwindet.
Dann suchen wir weiter die Gegend um das Papa ab, finden aber nichts mehr, was mit Verschleppungsaktionen oder Ähnlichem zu tun haben könnte. Währenddessen erwacht Neukölln langsam, vereinzelt kommen uns übermüdete Hipster entgegen, die verschlafen in die viel zu helle Sonne blinzeln.
Vielleicht sind wir wirklich besoffen zur Kurfürstenstraße gefahren, wer weiß. Das ist immer noch wahrscheinlicher, als auf mysteriöse Weise von Neukölln nach Tiergarten transportiert worden zu sein, von wem und warum auch immer.
»Ich glaub, das bringt nichts mehr«, sage ich schließlich und gähne ausgiebig. »Lass uns endlich ins Bett gehen.«
»Von mir aus.« Christina runzelt skeptisch die Stirn und scheint immer noch über die vermeintliche Verschleppungsaktion nachzudenken.
Wir machen uns auf den Heimweg, aber plötzlich klingelt mein Handy. Es ist Kurt.
»Du bist ja schon wach«, begrüßt er mich.
»Noch!«
»Ich auch. Er ist jetzt eingeschlafen. Jetzt! Davor hat er die ganze Nacht geschrien.«
»Oh«, sage ich nur. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, wie dieses friedliche und unfassbar niedliche Ding, das ich im Eltern-Kind-Café bewundern durfte, so etwas Ordinäres tun kann wie schreien.
»Aber warum bist du noch wach? Wieder Party gemacht, oder was? Ich dachte, du musst morgen deinen Artikel über Tiergarten abgeben?«
»Ha!«, rufe ich. »Ich komme gerade aus Tiergarten.« Und dann erzähle ich Kurt die ganze Geschichte, wie wir betrunken vor dem Papa standen und schließlich an der Kurfürstenstraße aufgewacht sind.
»Krass, oder?«
Aus dem Hörer kommt nur Schweigen.
»Kurt«, rufe ich.
»Äh, ja …?«
»Du bist doch nicht etwa eingeschlafen?«
»Nein, nein.«
»Also, was sagst du? Wurden wir wirklich nach Tiergarten verschleppt?«
Wieder Schweigen.
»Kurt?«
»Äh, ja …?«
»Sollen wir lieber später noch mal telefonieren?«
»Okay«, sagt Kurt matt, und wir verabschieden uns. Inzwischen sind wir bei Christinas Wohnung angekommen.
»Keine Ahnung, warum Kurt überhaupt angerufen hat«,
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