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Lehrerkind

Lehrerkind

Titel: Lehrerkind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bastian Bielendorfer
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aufstehen, am besten neben wechselnden Partnerinnen.
    Aktuell jedoch war die einzige Liebe, neben der ich morgens aufwachte, fünf Kilo schwer, am ganzen Körper behaart, und sie weckte mich mindestens sechsmal die Nacht, um gefüttert zu werden. Trotz ihres schmalen Brustkorbs plärrte Paula bei Hunger wie eine Horde Wikinger, und manchmal, wenn sie mich aus den sanften Träumen von einer besseren Zukunft riss, war ich mir sicher, sie hatte irgendwo ein Megafon versteckt. Schlaftrunken rührte ich Milchpulver an, wärmte es auf Körpertemperatur und verplombte die kleine Schnauze mit dem Gumminippel der Trinkflasche. Jedem Teenager, der von frühem Nachwuchs träumt, sei die Aufzucht eines Lamms wärmstens ans Herz gelegt. Im Gegensatz zu einem Neugeborenen, das man vielleicht mit einem Schnuller oder einem Mobile wenigstens so lange ruhigstellen kann, bis der Milchkleister angerührt ist, ist ein Lamm völlig unempfänglich für jede Art von Ablenkung. Bevor nicht die Flasche vors Maul geklemmt ist, wird man mit einer Mischung aus Feueralarm und Motörhead bedacht, von der man spätestens am zweiten Tag auf einem Ohr taub ist.
     
    Mittlerweile durchwanderte ich meinen schlaflosen Alltag im Halbkoma. Ich mistete aus, deckte ein, bespaßte und fütterte. Paula war jetzt zwei Wochen alt, zu beachtlicher Größe herangewachsen und so weit selbstständig, dass sie »nur« noch sechsmal täglich die Flasche brauchte. Als ich ausnahmsweise einmal mittags von der Arbeit heimfuhr, weil ich glaubte Fieber zu haben, traf ich nur meine Mutter und unseren Hund an, vor dessen Maul ein bemerkenswertes Gebilde aus Sabberblasen klebte. Als ich in das zum Stall umfunktionierte Zimmer ging, herrschte völlig Stille, kein raschelndes Stroh, kein Geruch von frischem Mist, kein kleines Lamm, das mir seinen Kopf zum Trinken in den Schritt prügelte. Aufgeregt rannte ich zu meiner Mutter, mein erster Gedanke war, dass Paula ausgebüxt war und jetzt irgendwo in Gelsenkirchen herumlief und Passanten in den Schritt boxte.
    »Wo ist das Schaaaaf«, schrie ich hysterisch. Ich hatte mich doch nicht dem Schlafmangel und der sozialen Verbannung ausgesetzt, nur um Paula jetzt in Einzelteilen von der Hauptstraße zu kratzen.
    »Bei deinem Vater, wie schon die ganze Woche … «, antwortete meine Mutter gelangweilt, meine Aufregung schien bei ihr noch nicht ganz angekommen zu sein.
    »Ja, und wo ist der?«, fragte ich und linste auf das Ziffernblatt der Küchenuhr, auf dem ein schwarzer Zeiger gerade lautlos auf 11.30 Uhr sprang.
    »Na ja, in der Schule, falls du’s nicht weißt, wir sind Lehrer!«, murrte sie genervt.
    »Und was machst du dann hier?«
    »Ich hab Migräne«, knurrte meine Mutter und machte den Fernseher lauter.
    Augenblicke später saß ich in meinem maroden Golf II, drehte hektisch am Zündschlüssel und würgte den Wagen zweimal polternd ab, bevor ich das Klappergestell auf die Einfahrt rollte. Der war ja wohl wahnsinnig geworden, das Schaf mit in die Schule zu nehmen. Hunderte Schüler, die an dem kleinen Leib »Ei« machen wollten, die jetzt bestimmt gerade an der kleinen Paula herumquetschten und -drückten, mit ihren ungewaschenen Drecksfingern. Das ging gar nicht.
    Ich rannte in meine ehemalige Schule, der vertraute Duft von Bohnerwachs und staubigen Wandschränken legte sich sofort über meine Sinnesorgane. Ich passierte meinen ehemaligen Direktor Märziger, der mich auf der Treppe ansprechen wollte, und murmelte nur etwas, das vermutlich nach »Kann nicht … muss Schaf« klang, bevor er mich mit einem seiner ellenlangen Monologe einlullen konnte.
    Der Klassenplan verwies auf die 8b in Raum 307, wo mein Vater gerade eine Stunde über Wilhelm Busch gab. Als ich die Tür einen Spalt weit öffnete, trug mein Vater passenderweise gerade folgende schlaue Zeilen von Busch vor:
     
    »Will das Glück nach seinem Sinn
    Dir was Gutes schenken,
    Sage Dank und nimm es hin
    Ohne viel Bedenken«
     
    Die Klasse schaute allerdings nicht meinen Vater an, sondern starrte wie gebannt hinter ihn. Denn während er das Gedicht vorlas, taperte unser kleines Lamm fröhlich um sein Pult herum.
    Ich riss die Tür auf, alle Pennäleraugen schwenkten von Paula zu dem Türspalt, in dem nun ein junger Mann mit hochrotem Kopf versuchte, Herrn Bielendorfer gespielt freundlich aus dem Klassenzimmer zu bitten.
    »Herr Bielendorfer … könnten Sie bitte mal mitkommen … und bringen Sie das Schaf mit«, fauchte ich und setzte ein schmerzerfülltes

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