Lehrerzimmer
und fett in seinem Kalender vermerkt, nicht nur einmal, hatte Kleible betont, sondern auf jeder einzelnen Dienstagsseite seines roten Sparkassenlehrerkalenders. Damit hatte Höllinger nicht gerechnet und war einen Augenblick sprachlos dagestanden, dann aber hatte er gesagt, wenn er, Kleible, all dies so genau wisse, warum er dann immer noch hier auf dem Gang stehe, statt seinen Pflichten ordnungsgemäß nachzukommen? Er, Kleible, hatte Höllinger gesagt, müsse als Erster unten bei der Hofaufsicht sein, in den ersten Minuten , das sei wichtig, denn in jenen ersten Momenten, in denen die Schüler voller Freude in die Pause stürzten, ereigneten sich erfahrungsgemäß die meisten Unfälle. Kleible hatte sich nicht aus der Ruhe bringen lassen und den Direktor aufgefordert, er, Höllinger, möge ihm, Kleible, doch einmal erklären, wie er, Kleible, es anzustellen habe, als Erster auf dem Hof zu sein, zur Pausenaufsicht, und gleichzeitig als Letzter das Klassenzimmer zu verlassen, um, wie gestern in der GLK beschlossen, hinter den Schülern abzuschließen. Daraufhin hatte Höllinger geschwiegen. Kleible hatte sich umgedreht und war in aller Ruhe auf den Hof gegangen, Höllinger aber in sein Büro abgezogen.
Noch in derselben Pause knackste es plötzlich in der Lehrerzimmerlautsprecheranlage, und Höllingers Stimme ertönte, Linnemann, rief er, sofort ins Direktionsbüro. Linnemann erbleichte, alle sahen ihn an. Plötzlich fasste sich Linnemann erschrocken an den Hals und begann, seine Taschen auszuleeren, wie wahnsinnig in den an seinem Arbeitsplatz liegenden Unterlagen zu wühlen und unter dem Tisch nachzusehen. Mein Schlüssel, flüsterte er, außer Atem. Seine Tischnachbarn halfen ihm fieberhaft, den Schlüssel zu suchen, aber man fand ihn nicht. Mit hängenden Schultern schlich er aus dem Lehrerzimmer. Es klingelte, die Lehrer gingen in ihre Klassen. Nach der Stunde traf ich Linnemann, der seinen Schlüssel nun an einer Kette um den Hals trug und ein wenig erschöpft aussah. Alles klar? fragte ich ihn. Er sah mich böse an. Waren Sie das? fragte er. Ich? sagte ich. Wie kommen Sie denn darauf? Ich hab Ihnen doch den Schlüssel zurückgegeben, erinnern Sie sich, gestern, im Zimmer 303. Da war es dunkel, sagte Linnemann, was weiß ich, was Sie mir da für einen Schlüssel gegeben haben. Herr Linnemann, rief ich, nein, das dürfen Sie nicht glauben, Linnemann, ich würde dem Direktor niemals einen Kollegen ans Messer liefern, unter uns gesprochen, was den Direktor betrifft, so muss ich sagen, dass … Martin, unterbrach mich Josef Jensen, der am Tisch nebenan stand, kommst du mal bitte? Ich entschuldigte mich bei Linnemann und verließ mit Josef das Lehrerzimmer, er führte mich den Gang entlang, sah sich am Ende des Ganges um, und in einem Augenblick, als uns niemand sehen konnte, schob er mich in die Herrentoilette. Er öffnete die Kabinentüren, warf einen kontrollierenden Blick hinein, strich prüfend mit den Händen über die Kanten der Kabinen und den Wandvorsprung, fasste unter das Waschbecken, kniete sich hin, legte sein Ohr auf den Boden, horchte einige Sekunden lang, stand auf und flüsterte endlich, hier ist der einzige Ort, an dem man halbwegs sicher reden kann, hör zu. Josef holte Luft und sagte langsam und jedes Wort deutlich betonend: Sag nie wieder irgendetwas gegen den Direktor im Lehrerzimmer. Man weiß nie, fuhr Josef fort, wer einem gegenübersitzt. Alles, was du im Lehrerzimmer sagst, kommt irgendwann zu Höllinger. Er verfügt über ein lückenlos ausgetüfteltes Agenten- und Doppelagentensystem innerhalb des Lehrkörpers. Also Vorsicht, schloss Josef, und Augen auf. Dann sagte er, ich solle noch eine Minute warten, ehe ich ihm ins Lehrerzimmer folgte, und ließ mich allein. Matt lehnte ich mich an den Heizkörper und starrte vor mich hin. Mit einem Ruck drehte ich mich plötzlich zum Handtuchspender um. Ein benutztes Stück Handtuch grinste mir ekelhaft feucht aus der weißen Box entgegen.
10
I ch kam rechtzeitig zum Klingeln ins Lehrerzimmer und wurde von einem seine Zähne bleckenden Linnemann begrüßt. Kranich, sagte er, Sie sollen nach der nächsten Stunde zum Direktor kommen, das wurde gerade durchgegeben. Ich erschrak, tastete meine Hosentasche ab und stellte erleichtert fest, dass mein Schlüssel noch da war. Ich blickte mich um. Josef und Achim waren bereits verschwunden. Pascal saß noch auf dem Sofa. Ich setzte mich kurz und fragte ihn, ob er eine Ahnung hätte, weshalb mich
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