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Lehrerzimmer

Lehrerzimmer

Titel: Lehrerzimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Orths
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Höllinger zu sich zitiert haben könnte. Er zuckte mit den Schultern und sah teilnahmslos vor sich hin. Was denn los sei? fragte ich ihn. Unterrichtsbesuch, sagte er. Wie? fragte ich, jetzt? Am zweiten Schultag? Vom Oberschulamt? Er schüttelte den Kopf. Domkapitular, sagte er. Kirche. Es gehe um die Missio. Um die Missio? fragte ich. Eltern hätten sich über ihn und seinen Religionsunterricht beschwert, sagte Pascal. Er würde zu wenig Bibel machen. Und jetzt der Domkapitular. Kontrollbesuch. Eben erst angekündigt. Sechste Stunde. Er habe keine Ahnung, was er da machen solle. Ich sah ihn an. Er saß bleich und zitternd auf dem Sofa. Wenn man ihm die Missio entziehe, fragte er, was solle er dann tun? Nie wieder, sagte er, wolle er sein Wort oder seine Hand gegen das heilige Schulsystem erheben. Er bereue zutiefst seine widerwärtigen Anwandlungen. Ohne die Missio, sagte er, sei er ein Nichts. Die Missio mache ihn allererst zu dem, was er wirklich sei, ein ganzer Mensch, ein runder, ein fertiger Mensch, ein Mensch mit Arbeit und Geld zum Leben. Pascal war immer lebhafter geworden und hatte sich bei den letzten Worten regelrecht an mich gekrallt. Jetzt starrte er mich wirr und mit flackernden Augen an. Ich müsse jetzt gehen, sagte ich, ich sei sowieso schon fünf Minuten zu spät. Ich riss mich los, schnappte mir mein Buch und lief zum Klassenzimmer. Ich war so verwirrt, dass mir jedwede Konzentration abging. Wie konnte ich Pascal helfen? dachte ich. Und was wollte der Direktor von mir? Auch machte sich erstmals an diesem Tag große Müdigkeit in mir breit, ich merkte, dass ich in der Nacht keine Sekunde geschlafen hatte, und die Stunde lief völlig an mir vorbei. Die zweisprachig aufgewachsenen Schüler der 10d kamen mit dem Kopfschütteln und dem Aufschreiben der Fehler gar nicht mehr mit. Als ich einmal nach avoid kein gerund verwendete, biss sich einer von ihnen auf die Zunge, ein anderer zog die Luft durch die Zähne, ein Dritter stöhnte schmerzhaft auf und ließ vor Schreck den Stift fallen, als hätte er sich an ihm verbrannt. Erst als mich einer der Schüler nach dem englischen Wort für Lawinengefahr fragte, hellte sich meine Miene auf, Lawinengefahr, sagte ich und stolzierte dozierend vor den Schülern auf und ab, Lawinengefahr, nichts leichter als das, sagte ich, Lawinengefahr sei ein Wort, das sicherlich kaum einem Englischlehrer im Kollegium ad hoc bekannt sein dürfte, woran sie, die Schüler, sähen, was für ein Glück sie hätten, mich als Lehrer bekommen zu haben, Lawinengefahr, sagte ich und schluckte, einen Moment noch, sagte ich, ich sehe es vor mir, sagte ich, es liegt mir schon auf der Zunge, einen Moment noch, gleich. Die Schüler sahen mich aufmunternd an. Es steht mir greifbar vor Augen, sagte ich, gestern wusste ich es noch, ganz sicher, Sie müssen mir glauben, ich bitte Sie. Also? fragte einer der Zweisprachigen. Ich sackte zusammen und musste passen. Es war mir irgendwann zwischen einem der Biere im Ratskeller entfallen. Auch das noch, murmelte Horst Höllinger und machte sich eine Notiz. Als die Stunde vorüber war, stürzte ich aus dem Zimmer, nicht ohne vergessen zu haben, mein Kürzel sowie den üblichen Vermerk über den in der Stunde behandelten Stoff ins Klassenbuch einzutragen. Ich ging am immer noch reglos auf dem Sofa sitzenden Pascal vorbei, klopfte ihm auf die Schulter, sagte ihm, er solle ruhig bleiben. Sobald ich beim Direktor gewesen sei, käme ich zurück und würde ihm helfen. Dann trat ich vor den Spiegel im Lehrerzimmer, strich mir die Haare aus der Stirn, zupfte den Hemdkragen zurecht, rieb mir mit den Händen durchs Gesicht, gab mir einige leichte, aufmunternde Ohrfeigen und ging los.
    Im Sekretariat meldete ich mich mit kreidiger Stimme. Ich müsse zu Herrn Höllinger. Die erste Sekretärin sah mich mitleidig an. Die Zweite legte mir, als ich an ihr vorbeiging, kurz die Hand an die Schulter, Kopf hoch, sagte sie. Ich ging zur Tür und klopfte leise. Von innen hörte ich Höllingers ja bitte , ich öffnete und trat ein. Kommen Sie, kommen Sie, mein lieber Kranich, sagte er, setzen Sie sich, möchten Sie einen Kaffee? Ich lehnte dankend ab. Was sind Sie denn so nervös? fragte er. Haben Sie Angst? Nein, sagte ich, nein, nein. Sagen Sie, sagte der Direktor und schnupperte misstrauisch, haben Sie getrunken? Nein, sagte ich, nein, warum? Es schiene ihm so, Alkohol im Dienst, ich wisse ja, was das bedeute. Nein, wiederholte ich, ich sei völlig nüchtern. Er habe vor

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