Lehtolainen, Leena
in dem Tonfall, den die empathischen Mo-deratoren im Fernsehen verwenden, wenn sie mit Menschen sprechen, die etwas Schreckliches erlebt haben.
«Nein. Im Knast hört man ja allerlei Geschichten. Einer aus unserem Block hatte dreiundsiebzigmal auf seinen Stiefvater eingestochen, der ihn jahrelang sexuell missbraucht hatte. Die meisten von uns haben versucht, ihre Taten irgendwie zu rechtfertigen, anders hält man das nicht aus. Viele suchen Zuflucht bei Gott oder bei Drogen. Oder beim Schnaps, obwohl gerade der bei Totschlägen so oft eine Rolle spielt», sagte Kalle und nahm einen Schluck Wein.
Was würde er sagen, wenn ich ihm erzählte, was ich getan hatte? Er sah mich aus seinen braunen Augen an, auf Vorwürfe gefasst, aber zugleich freundlich. Wenn er hörte, dass ich drei Männer getötet hatte, würde er nichts mehr mit mir zu tun haben wollen, das stand fest. Ich kam mir vor wie ein verlogenes Monster. Ich hörte mir seine reumütigen Worte an, als wäre ich die große Unschuldige. Trotzdem spielte ich meine Rolle weiter, denn ich wollte nicht, dass er ging.
«Wie bist du eigentlich an deine Wohnung gekommen?»
«Mirja und ich hatten sie gemeinsam gekauft, ein paar Monate bevor ich meinen Vater getötet habe. Anfangs hat sich Mirja um alles gekümmert, sie hat auch ein Jahr lang hier gewohnt, bis sie ihren neuen Freund kennen gelernt hat. Wir haben dann abgemacht, die Wohnung zu vermieten. Mirja hat das Auto übernommen, und ich habe von den Mieteinnahmen ihren Anteil am Kaufpreis bezahlt. Mirja hatte wohl das Gefühl, mich be-trogen zu haben, weil sie es nicht geschafft hat, auf meine Entlassung zu warten, daher ging alles viel leichter, als ich es verdient hätte. Mein Leben ist in bester Ordnung, ich habe eine Wohnung und eine Stelle, obwohl ich nur auf Bewährung entlassen bin. Und trotzdem beklage ich mich die ganze Zeit. Jetzt erzähl du aber mal etwas von dir.»
«Über mich gibt’s nichts zu erzählen.» Um Kalles Blick auszuweichen, stand ich auf und holte ein Taschentuch, ich hatte das Gefühl, gleich niesen zu müssen. Ich nahm eine Tüte Erd-nusskerne aus dem Schrank und schüttete sie in die Schüssel mit dem Kirschmuster.
«Seit wann arbeitest du schon im Schutzhafen?»
Ich aß ein paar Nüsse, bevor ich antwortete.
«Im September waren es vier Jahre.»
«Gefällt es dir?»
Sulo schlug mit der Pfote gegen die Nuss, die Kalle zwischen den Fingern hielt, sodass sie auf den Fußboden flog und in die Zimmerecke rollte. Dann setzte er der Nuss nach, als wäre sie die faszinierendste Beute, die man sich nur denken kann, und spielte eine Weile Pfoteneishockey mit ihr. Kalle prustete vor Lachen, als er sah, wie der Kater mit zuckendem Schwanz den Kopf hin und her bewegte und sein eigenes Spiel beobachtete.
Auch ich fing an zu kichern. Sulo war einfach unglaublich: Es war, als hätte er gespürt, dass unsere Unterhaltung gezwungen und viel zu ernst war, und deshalb beschlossen, die Stimmung aufzulockern.
«Wenn du mal jemanden brauchst, der deine Katze versorgt, sag mir Bescheid. Es würde mir wirklich Spaß machen, dem kleinen Racker sein Futter hinzustellen», bot Kalle an und ließ Sulo mit einer zusammengerollten Zeitung spielen. Wie auf Ver-abredung sprachen wir über weniger schwer wiegende Dinge: Katzen, Bücher, Filme. Kalle hatte offenbar die Hälfte seines Lebens mit Lesen verbracht, und ich kam mir völlig ungebildet vor, weil ich nicht wusste, wer Wislawa Szymborska war, und noch nie etwas von Kari Hotakainen gelesen hatte.
«Wer ist denn dein Lieblingsschriftsteller?», fragte Kalle.
«Ich habe keinen.» Ich hatte vom Wein einen heißen Kopf, ich spürte, dass meine Haut anfing, sich zu röten und zu schup-pen.
«Wirklich nicht? Gibt es keine Bücher, die du immer wieder liest, so wie ich die von Calvino oder Hotakainen?»
Ich überlegte eine Weile und stellte fest, dass er Recht hatte.
«Schon, aber ich verrate dir nicht, von wem sie sind, du würdest mich nur auslachen.»
«Ich verspreche, nicht zu lachen», lächelte Kalle durch seinen Bart.
«Lucy Maud Montgomery, die Mädchenbuchautorin. Sagt dir der Name überhaupt etwas?»
«Ja, ich habe sogar etwas von ihr gelesen. Wofür genierst du dich denn? In der Bibliothek leihen sich viele erwachsene Frauen ihre Bücher aus.»
Ich war mir sicher, er hielt mich insgeheim für eine kindische alte Jungfer, die sich mit Hilfe von Teenagerbüchern einen Traummann zusammenphantasierte und deshalb unfähig war, eine Beziehung
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