Lehtolainen, Leena
rief Aira, als die Etüde zu Ende war. »Kriminalhauptmeisterin Kallio möchte dir ein paar Fragen stellen.«
Die junge Frau drehte sich so abrupt auf ihrem Klavierstuhl um, dass das Notenheft herunterfiel und der Klavierdeckel zuschlug. Von vorn sah sie älter aus, obwohl die mandelförmigen, ängstlichen braunen Augen und der kleine Mund kindlich wirkten. Die lange schmale Nase ließ das sonst puppenhafte Gesicht erwachsener erscheinen. Ich schätzte sie auf etwa vierundzwanzig Jahre.
»Hat man etwas von Elina gehört?«, fragte sie aufgeregt. Ihre langen, mit silbernen Ringen geschmückten Finger spielten mit den Haaren.
»Nein. Deshalb möchte ich gern mit dir sprechen. Natürlich ist das keine offizielle Vernehmung. Wann hast du Elina zuletzt gesehen?«
»Am zweiten Feiertag beim Abendessen … gegen acht. Wir anderen sind danach hierher gegangen, in die Bibliothek, um zu lesen oder fernzusehen, aber Elina wollte unbedingt einen Spaziergang machen. Seitdem habe ich sie nicht mehr gesehen.«
Niina sah verstört aus, sie wandte den Blick von mir ab, als könnte sie so die Möglichkeit abwehren, dass Elina etwas zugestoßen war. Sicher erschien ich ihr wie eine Unglücksbotin.
Schließlich mischt sich die Polizei nicht in das geruhsame Leben normaler Leute ein.
»Du hast hier Weihnachten gefeiert, also kanntest du Elina offenbar gut?« Erst als Niina zusammenschrak, merkte ich, dass ich in der Vergangenheitsform gesprochen hatte. Ich korrigierte mich nicht, um nicht noch mehr Verwirrung zu stiften.
»Na ja, so gut auch wieder nicht, ich habe zwei von ihren Kursen besucht, und Anfang Dezember habe ich eine Therapie bei ihr begonnen. Ich habe sonst niemanden, mit dem ich Weihnachten feiern könnte. Meine Mutter ist tot, mein Vater lebt in Frankreich, und Geschwister habe ich keine.« Es war deutlich zu hören, wie einsam sie sich gerade an Weihnachten fühlte.
»Hast du irgendeine Idee, wohin Elina gegangen sein könnte?«
»Ich habe auf ihrer Karte nachgesehen, bin daraus aber nicht recht schlau geworden …«
»Auf welcher Karte?«
»Auf ihrer astrologischen Karte. Allerdings ist der Einfluss von Saturn und Pluto ziemlich stark, das deutet auf selbstzerstö-
rerische Tendenzen hin. Und auf Konflikte mit jemandem, der ihr nahe steht, zum Beispiel mit einem Familienangehörigen …«
Niina sah flüchtig zu Aira hin.
Ab und zu meldeten sich Astrologen, Wahrsager oder Hellse-her bei der Polizei und boten ihre Hilfe bei der Aufklärung schwieriger Fälle an. Ich brachte es nicht fertig, sie ernst zu nehmen, und wimmelte sie jedes Mal so schnell wie möglich ab.
Allerdings wusste ich über Astrologie eigentlich nur, dass ich unter dem Sternzeichen Fische geboren bin, dessen typische Eigenschaften angeblich Sensibilität, Empfindsamkeit, Anpas-sungsfähigkeit und Kreativität sind. In den Beschreibungen der Illustriertenhoroskope erkannte ich mich selten wieder, aber es machte Spaß, sie zu lesen. Immerhin, fast alle Männer, zu denen ich kürzere oder längere Beziehungen gehabt hatte, waren Schützen, auch Antti. Vielleicht hatten die Sternzeichen doch etwas zu bedeuten …
Ich bat Niina um ihre Adresse, falls ich weitere Fragen an sie hätte. Sie schien noch nicht zu wissen, wie lange sie in Rosberga bleiben würde, gab mir aber Anschrift und Telefonnummer. Ich hatte den Eindruck, dass sie erleichtert war, als wir das Bibliothekszimmer verließen, um die anderen Frauen zu suchen.
Milla saß im Auditorium und spielte am Computer Patience.
Rote und schwarze Karten schwebten über den Bildschirm, legten sich aufeinander, die Maus klickte wie wild. Nur gut, dass auf meinem Dienstcomputer keine Spiele installiert waren, sonst wäre ich bestimmt süchtig geworden. Als ich Milla ansprach, sah sie verärgert vom Bildschirm auf und stellte dann seufzend das Gerät ab.
»Nimmst du mich jetzt in die Mangel? Scheiße, hier drin darf man nich mal rauchen!«
Es war geradezu komisch, wie sehr Millas Ausdrucksweise und ihre ganze Haltung an Pertsa Ström erinnerten. Dieser Vergleich würde garantiert beide auf die Palme bringen. Das kam mir so lustig vor, dass ich Milla in mütterlich-freundlichem Ton antwortete:
»Du musst meine Fragen nicht beantworten, das hier ist keine offizielle Vernehmung. Aber wenn du Elina so gern hast, dass du mit ihr Weihnachten feierst, willst du mir doch sicher helfen, sie zu finden.«
»Blabla! Ich weiß gar nix von Elina. Und vorletzte Nacht war ich überhaupt nicht
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