Lehtolainen, Leena
Elina Rosberg verordnet worden war und dreimal täglich eingenommen werden sollte. Ich schraubte die Dose auf. Sie enthielt noch etwa zwanzig Tabletten.
»Das ist allerdings seltsam. Aber auch das Medikament kann man nachkaufen, Elina kennt doch bestimmt viele Ärzte.«
Ich überlegte. Aira schien fest davon überzeugt zu sein, dass an Elinas Verschwinden etwas faul war. Ganz offensichtlich wollte sie mich dazu bringen, eine offizielle Fahndung einzulei-ten. Und doch hatte ich das Gefühl, dass sie mir etwas vorenthielt.
»Wann hast du Elina zuletzt gesehen?«
»Am zweiten Weihnachtstag gegen zehn Uhr abends. Sie kam gerade von einem Spaziergang zurück. Elina war müde, weil sie wegen ihrem Husten mehrere Nächte nicht richtig geschlafen hatte. Ich hielt es für Wahnsinn, in ihrem Zustand in die Kälte zu gehen, aber sie meinte, sie hätte eine Weile ihre Ruhe haben wollen. Ich habe ihr eine Tasse Tee aufgezwungen, die hat sie auf ihr Zimmer mitgenommen. Sie wirkte ganz normal. Gar nicht so, als hätte sie vor, nochmal wegzugehen.«
»War sie allein spazieren gegangen?«
Aira sah mich nachdenklich an.
»Ich glaube, sie war mit Joona zusammen, aber das weiß ich natürlich nicht genau, denn Elina hat ihn nie mit ins Haus gebracht. Männer haben in Rosberga ja keinen Zutritt.«
»Wo haben sie sich denn getroffen, wenn nicht hier?« So bewundernswert Elinas Konsequenz auch sein mochte, ihre Entscheidung, selbst den eigenen Freund nicht ins Haus zu lassen, brachte sicher einige praktische Probleme mit sich.
»Meistens bei Joona.« Airas Tonfall verriet, dass sie Elinas Beziehung zu Joona Kirstilä nicht unbedingt begrüßte. »Und natürlich in der Hütte.«
»In welcher Hütte?«
»Die alte Sauna westlich vom Haus. Elina hat dort vor ein paar Jahren Strom legen lassen. Ich glaube, sie hat sich auch dort mit Joona getroffen, obwohl eigentlich das ganze Grundstück für Männer tabu sein sollte«, erklärte Aira leicht verlegen.
»In die Hütte möchte ich auch noch einen Blick werfen. Aber machen wir erst mal hier weiter. Du hast also Elina nicht mehr hinausgehen hören?«
Aira sah verlegen und irgendwie schuldbewusst aus.
»Ich hatte wegen Elinas Husten auch mehrere Nächte unruhig geschlafen. Deshalb habe ich eine Schlaftablette genommen und mir obendrein Stöpsel in die Ohren gesteckt. Ich bin erst gegen neun wach geworden, als Niina in der Küche mit dem Früh-stücksgeschirr geklappert hat.«
Ich beschloss, mit den anderen Frauen zu sprechen, und hoffte, von ihnen mehr zu erfahren. Aira sagte, Elinas Freundin Tarja Kivimäki sei schon nach Hause gefahren, nach Tapiola. Sie müsse heute wieder arbeiten.
Tarja Kivimäki … Woher kannte ich den Namen? Zum Glück hatte ich heute Morgen endlich daran gedacht, bei der Provinzialpolizei in Johannas Heimat anzurufen, allerdings erfolglos: Ich kannte dort niemanden. Jedenfalls hatte die Polizei aber keine rechtliche Handhabe, Johannas Besuche bei ihren Kindern zu verhindern. Ich fragte Aira, ob Johanna sich mit der Juristin in Verbindung gesetzt hätte, die ich ihr empfohlen hatte. Sie schüttelte den Kopf.
»Johanna ist schrecklich deprimiert wegen der Trennung von ihren Kindern, gerade an Weihnachten … Elina hat zwar mit einer Anwältin gesprochen, aber in erster Linie hat sie sich darauf konzentriert, Johannas Schuldgefühle zu zerstreuen.«
»Schuldgefühle? Wegen der Abtreibung?«
»Und weil sie ihre Kinder im Stich gelassen hat. Vielleicht sprichst du zuerst mit Niina Kuusinen, sie spielt in der Bibliothek Klavier.«
Aira führte mich durch den Speisesaal ins Bibliothekszimmer, aus dem jetzt eine furios gespielte Chopin-Etüde zu hören war.
Niina war allem Anschein nach eine geübte Pianistin. Antti, der immerhin auch kein Anfänger war, kam mit den schwierigen Läufen in der Mitte längst nicht so gut zurecht.
Die junge Frau am Klavier war so in ihr Spiel versunken, dass sie uns nicht hereinkommen hörte. Zuerst sah ich nur ihren Rücken. Die nussbraunen, glatten Haare reichten ihr bis zur Taille und schwangen im Takt ihres Spiels. Ein blauweiß gestreiftes Hemd umhüllte die magere Gestalt, dazu trug sie verschlissene Jeans mit Schlag und klobige Springerstiefel. Von hinten wirkte Niina Kuusinen wie ein Teenager, fast zu zierlich und zerbrechlich für das mit schweren Möbeln und Büchern gefüllte, dunkle Zimmer, in dem nur der Fernseher in der Ecke verhinderte, dass man sich vollends in die zwanziger Jahre versetzt wähnte.
»Niina!«,
Weitere Kostenlose Bücher