Lehtolainen, Leena
immer zur Schule gekommen und hatte über den Vorfall am Wochenende kein Wort verloren. Mit Jari sprach sie nicht. Die letzte Stunde an diesem Tag war Sport, und obwohl Johanna sich zum Umziehen in den hintersten Winkel verdrückte, sahen die Mädchen, dass sie am ganzen Körper blaue Flecke hatte.
»Wir hätten natürlich etwas unternehmen sollen«, seufzte Minna. »Aber es war so selbstverständlich für uns, dass die Gläubigen ihr eigenes Leben führen und dass man sie am besten in Ruhe lässt. Jari ist dann im Frühjahr von der Schule abgegan-gen, weil er einen Job bei einem Tango-Orchester bekam.
Johanna hat nicht an der Abifete teilgenommen, und als sie zur Englischklausur kam, trug sie einen Verlobungsring. Soweit ich weiß, wollte sie Medizin studieren, aber stattdessen hat sie dann geheiratet.«
Wir waren in der Ortschaft Ii angelangt, von hier aus führte die Straße am Fluss Iijoki entlang nach Osten, nach Karhumaa und Yli-Ii. Im Sommer machte es sicher Spaß, mit dem Rad am Fluss entlangzufahren, stellte ich mir vor. Jetzt ging allmählich die Sonne auf. Ihre schrägen Strahlen zeichneten bunt glitzernde Muster in den Schnee. Ich betrachtete eine Zeit lang die Landschaft, doch dann wurde mir auf einmal so übel, dass ich Minna bitten musste anzuhalten. Ich stolperte aus dem Wagen und übergab mich.
Minna erriet natürlich sofort, was los war, und gab mir mit der Erfahrung der dreifachen Mutter Tipps gegen die Übelkeit. Ich hielt nach einer Tankstelle Ausschau, wo ich mir den Mund ausspülen konnte, sah aber keine. So ließ ich Minna kurz vor Karhumaa noch einmal anhalten und schaufelte mir Schnee vom Wegrand in den Mund. Er schmeckte wie in der Kindheit: zuerst frisch, dann ölig und streng.
Das Dorf war klein, es befand sich im Grunde nur an der Hauptstraße. Mit Hilfe der Anweisungen, die ich erhalten hatte, fanden wir das Haus der Sänttis zwei Kilometer von der Dorfmitte, unmittelbar am Flussufer. Das Grundstück war offenbar von den Ländereien des Bauernhofs abgetrennt worden, der weiter oben an der Uferböschung stand. Alle Häuser in Karhumaa wirkten geräumig, als wären sie für zwölfköpfige Familien bemessen, das Haus der Sänttis war jedoch prächtiger als die anderen, ein einstöckiger Bungalow aus hellem Backstein mit sicher an die dreihundert Quadratmeter Wohnfläche. Auf dem Hof standen ein eleganter schwarzgrauer Volvo und ein Kleinbus derselben Marke, wahrscheinlich das einzige Gefährt, in dem die Kinderschar der Sänttis überhaupt Platz fand. Skier und Tretschlitten standen ordentlich aufgereiht vor dem Haus, die Rüschengardinen an den Fenstern sahen aus, als wären sie gerade erst gewaschen worden. Entgegen meiner Erwartung wirkte das Haus der Sänttis von außen keineswegs bedrückend. Auch der Mann, der wartend in der offenen Tür stand, sah anders aus, als ich ihn mir vorgestellt hatte.
Trotz seiner angenehmen, kultivierten Stimme hatte ich Leevi Säntti als kleinen, dicklichen Mann vor mir gesehen, mit streng in der Mitte gescheitelten dünnen, fettigen Haaren, einem Brillengestell aus den sechziger Jahren und einem dunklen Anzug mit zu kurzer Hose.
In Wahrheit war er ein breitschultriger, eins achtzig großer Mann mit kurzem, kartoffelschalenbraunem Haar, das ganz offensichtlich mit Schaumfestiger und Lockenbürste in Form geföhnt worden war. Seine Gesichtszüge waren unauffällig, aber angenehm, und statt des schlecht sitzenden Anzugs, den ich erwartet hatte, trug er eine dunkelblaue Cordhose und einen braunblau gemusterten, legeren Pullover, unter dem ein hellblau gestreifter Hemdkragen hervorschaute. Säntti sah keinen Tag älter aus als einundvierzig. Wir betraten die geräumige Diele, in der eine imposante Anzahl von Garderobenschränken untergebracht war. Man hörte Kinderstimmen, und plötzlich tauchte am Ende des Flurs ein Dreikäsehoch auf, zeigte auf mich und sagte, sichtlich stolz auf sich selbst:
»Tante. Tante.«
Das Kind konnte noch keine zwei Jahre alt sein, es musste sich also um meine Namensschwester Maria handeln, Johannas Jüngste. Am liebsten hätte ich sie auf den Arm genommen, doch bevor ich dazu kam, wurde sie von einem etwa sechsjährigen Mädchen weggeholt.
»Wir gehen am besten in mein Arbeitszimmer, dort können wir ungestört reden. Die Kinder sollen nicht hören, dass die Polizei Erkundigungen über ihre Mutter anstellt. Zum Glück sind Sie nicht im Streifenwagen gekommen.«
»Es handelt sich nur um Routinefragen«, beschwichtigte
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