Lehtolainen, Leena
ich.
Auf dem Weg in Leevi Sänttis Arbeitszimmer gelang es mir, einen Blick in eine traditionell eingerichtete Wohnstube und in ein Kinderzimmer mit Schutzengelbild und Etagenbett zu erhaschen.
»Ich bin nur nebenberuflich Prediger, in erster Linie arbeite ich im Sägewerk meines Vaters«, erklärte Säntti, als ich neugierig das Bücherregal betrachtete, in dem religiöse Textsammlungen und Fachbücher über die Holzverarbeitung Seite an Seite standen. »Am Nachmittag muss ich wieder ins Werk, kommen wir also gleich zur Sache. Maija-Leena wird uns sicher bald Kaffee bringen.«
Irgendetwas an Leevi Säntti erinnerte mich an Kari Hanninen.
Das Aussehen war es nicht, auch nicht die Sprechweise, obwohl beide eine weiche Stimme hatten, die einen gewissermaßen zwang, ihnen zuzuhören. Ich überlegte, was der verbindende Faktor sein mochte. Es war kaum anzunehmen, dass Leevi Säntti an Astrologie glaubte.
»Haben Sie etwas dagegen, wenn ich dieses Gespräch aufnehme?« Da er den Kopf schüttelte, fuhr ich fort: »Elina Rosberg, bei der Ihre Frau Johanna gewohnt hat, seit sie ihr Zuhause verlassen hat, also seit ein paar Monaten, ist vor zwei Wochen unter bisher ungeklärten Umständen ums Leben gekommen. Ich würde gern mit Ihnen über die psychische Verfassung Ihrer Frau sprechen. Sie hat ja eine schwere Zeit durchgemacht. Der Entschluss, ihre Schwangerschaft zu beenden und ihre Familie, sei es auch nur vorübergehend, zu verlassen, ist ihr sicher nicht leicht gefallen. Würden Sie sagen, dass ihr seelisches Gleichgewicht gestört ist?«
»Glauben Sie an Gott, Hauptmeister Kallio?«
Obwohl Sänttis Frage nicht zur Sache gehörte, entschied ich mich dafür, sie zu beantworten.
»Ich weiß selbst nicht, woran ich glaube. Wieso?«
»Ich würde in Johannas Fall nicht von seelischer Erschütterung sprechen, sondern von Auflehnung gegen den Willen Gottes. Die Bibel verbietet den Mord, also auch die Abtreibung, in der Bibel heißt es unmissverständlich, dass das Weib dem Manne Untertan ist und dass eine Mutter zu ihren Kindern gehört. Ich kenne meine Frau nicht mehr. Ihre Brüder erinnern sich zwar, dass sie in der Schulzeit einige Male gegen Gottes Willen aufbegehrt hat, aber sie war jahrelang eine gute Mutter und eine fügsame Ehefrau. Ich weiß nicht, ob der Teufel in sie gefahren ist und sie sich deshalb so verhält. Sie hat bereits einen Menschen getötet. Wie ich Ihnen am Telefon schon sagte, halte ich es durchaus für möglich, dass sie ein zweites Mal gemordet hat.«
»War es Ihrer Ansicht nach Elina Rosbergs Schuld, dass Ihre Frau abtreiben ließ?«
»Wie meinen Sie das?« Seine Stimme klang verblüfft, obwohl er sicher verstand, worauf ich hinauswollte.
»Elina Rosberg hat Ihre Frau doch dazu ermutigt, die Abtreibung vornehmen zu lassen, und ihr eine Unterkunft angeboten.«
»Das wusste ich nicht.« Sänttis Bariton war eine Spur dumpfer geworden. »Ich dachte, Fräulein Rosberg hätte eine Art Asyl geleitet.«
»Ein Asyl? Für Opfer häuslicher Gewalt?«, fragte ich vorsichtig.
»Was wollen Sie damit andeuten?«
»Ich will gar nichts andeuten. Ich möchte nur erfahren, welche Auffassung Sie von Elina Rosberg und von der Tätigkeit des Gutshauses Rosberga haben.«
Im selben Moment ging die Tür auf und eine schlanke junge Frau mit einem Tablett trat ein. Sie sah Johanna auffallend ähnlich, allerdings wirkte Maija-Leena Yli-Koivisto nicht annähernd so traurig und erschöpft wie ihre ausgemergelte Schwester, sondern war trotz ihrer altmodischen Kleidung eine ausgesprochen hübsche Frau.
Auf dem Tablett standen eine Kaffeekanne und drei Tassen, dazu allem Anschein nach selbst gebackenes Roggenbrot und duftendes Hefegebäck. Minna warf mir einen Blick zu, als wollte sie mich auffordern zu essen, damit mir nicht wieder übel wurde. Maija-Leena stellte das Tablett ab und ging. Ich überlegte, ob ich Gelegenheit finden würde, auch mit ihr zu sprechen, nachdem Leevi Säntti in sein Sägewerk gegangen war.
Das Brot schmeckte nach Sommer, nach den Ferien auf dem Hof meines Onkels Pena in Kuusikangas. Ich hatte meine Scheibe fast aufgegessen, bevor Leevi Säntti weiterredete.
»Vielleicht waren die Ereignisse der letzten Monate belastend für Johanna, aber das waren sie für mich auch. Man mag noch so sehr darauf vertrauen, dass Gott weiß, was er tut, und doch begeht man manchmal die Sünde des Zweifels. Das Kind, das Johanna getötet hat, war auch mein Kind. Warum wollte Gott mich strafen, indem er
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