Lehtolainen, Leena
Dennoch hoffte ich, dass die watteweiche Stimmung, die die Elternzeitschriften vermittel-ten, an uns haften blieben wie Kaugummi, bis unser Kind Abitur machte. Vor dem Haus drehte Antti sich zu mir um.
»Schneefrau«, sagte er zärtlich und gab mir einen Stupser auf die Nasenspitze. Die Atemluft hatte sich als grauer Raureif auf meine Haare gelegt, und von den Bäumen war Schnee auf Mütze und Schultern gefallen.
»Wenigstens taue ich wieder auf«, sagte ich mehr zu mir selbst als zu Antti und dachte an Elina.
Ich rief die Klinik an. Aira Rosbergs Zustand hatte sich nicht wesentlich verändert. Sie war weiterhin bewusstlos, das Ausmaß ihrer Schädelverletzung war noch nicht abgeklärt. Alle übrigen Organfunktionen lagen im Normalbereich, von der Kopfverlet-zung abgesehen, war Aira unversehrt geblieben. Schließlich wagte der Arzt die vorsichtige Prognose, Airas Überlebenschance liege über fünfzig Prozent. Ich überlegte, wie Johanna allein in Rosberga zurechtkam. Konnte sie dort wohnen bleiben, obwohl Aira nicht da war? Vielleicht war es sogar gut, dass jemand das Haus hütete.
Am nächsten Morgen fuhr ich geradewegs zur Klinik. Ich rechnete nicht damit, Aira schon vernehmen zu können, hoffte aber, die behandelnden Ärzte würden mir mehr über ihren Zustand sagen können. Auf jeden Fall musste ich meinen Terminplan für die nächsten Tage umstrukturieren. Dabei fiel mir ein, dass ich am folgenden Tag, am Freitagnachmittag, zu dem Schusswechsel in Nuuksio befragt werden sollte. Meine Stimmung sank. Ich wusste schon im Voraus, was bei den Vernehmungen und dem anschließenden Verfahren heraus-kommen würde: Einer der Polizisten, die während des Einsatzes Befehle gegeben hatten, wurde geopfert, während die eigentlichen Leiter der Operation ungeschoren davonkamen. Mein kleiner Fiat wirkte auf dem Parkplatz des gigantischen Kran-kenhauskomplexes ganz verloren. Als ich durch den Haupteingang trat, wurde mir plötzlich klar, dass diese Klinik in sieben Monaten auch mich verschlucken würde. Der Gedanke besserte meine Laune nicht gerade. Seit ich mit vierzehn Jahren zwei Wochen lang in der Zentralklinik von Nordkarelien liegen musste, weil ein verkaterter Chirurg an meinen Rachenmandeln herumgepfuscht hatte und die Wunde sich nicht schließen wollte, verabscheute ich Krankenhäuser. Ärzte und Krankenschwestern hatten mich behandelt wie einen lästigen Quälgeist und mich gezwungen, widerliche Nudelsuppe zu essen. Eine Klinik war für mich ein Ort, wo man nicht heilte, sondern Zwang ausübte, wo man Menschen nicht als Menschen betrachtete, sondern als blutende Rachenmandeln, als Blinddärme oder Beinbrüche. Ob es hier auf der Entbindungsstation auch so zuging?
Ich musste lang und breit erklären, wer ich war, bevor die Angestellte am Informationsschalter sich herbeiließ, mir zu sagen, wie ich zur Intensivstation kam. Verschiedenfarbige Streifen auf dem Fußboden markierten den Weg zu den einzelnen Abteilungen. Mein Streifen führte zum Aufzug.
Auf der Intensivstation ging der Kampf gegen die Bürokratie weiter. Ich musste zuerst eine Krankenschwester überreden, dann die Stationsschwester, bevor ich zu dem Arzt vorgelassen wurde, der Aira behandelte. Mikael Wirtanen, der Stationsarzt, verhielt sich dagegen geradezu verdächtig zuvorkommend.
Vermutlich war das seiner Erfahrung nach die beste Methode im Umgang mit der Polizei, die einen höflichen Arzt vielleicht weniger nachdrücklich drängte, die Vernehmung eines Patienten zu gestatten.
In Airas Fall konnte davon vorläufig ohnehin keine Rede sein.
»Sie ist zwar bei Bewusstsein, aber noch sehr verwirrt, sie scheint sich nicht zu erinnern, was passiert ist. Sie hat schwerste Kopfschmerzen und bekommt deshalb starke Schmerzmittel. Bis auf weiteres ist es schwierig, das Ausmaß der Verletzung zu beurteilen. Fräulein Rosberg ist bereits siebzig, daher verläuft der Genesungsprozess deutlich langsamer als beispielsweise bei Patienten in Ihrem Alter.«
»Wie wirkt sich ihr allgemeiner seelischer Zustand auf die Genesung aus? Ihre Nichte, die ihr sehr nahe stand, ist vor rund zwei Wochen überraschend gestorben, und jetzt ist sie selbst überfallen worden. Das sind gleich zwei schwere Schockerleb-nisse.«
»Alles wirkt sich auf alles aus. Im Gegensatz zu manchen Kollegen bin ich fest davon überzeugt, dass Psyche und Körper ein unteilbares Ganzes bilden. Im Übrigen ist Fräulein Rosberg für ihr Alter in ausgezeichneter Verfassung.«
Ich überlegte, ob
Weitere Kostenlose Bücher