Lehtolainen, Leena
in diesem Fall einen gewaltigen Vorteil im Kampf um das Sorgerecht hatte. Es mochte ja sein, dass man in Karhumaa Schläge als angemessene Erziehungsmaßnahme betrachtete, doch zum Glück galten die Regeln von Karhumaa nicht überall.
Irgendwo weinte ein Kind.
»Maria ist wieder aus dem Schlaf geschreckt. Ich muss zu ihr.
Und Sie sollten jetzt gehen, die größeren Kinder kommen bald aus der Schule. Es wäre unangenehm, wenn sie miterleben müssten, dass die Polizei nach ihrer Mutter fragt.«
Das mussten wir akzeptieren, außerdem wollte ich ja auch meinen Zug nicht verpassen. Als wir vom Hof der Sänttis fuhren, hielt an der gegenüberliegenden Straßenseite gerade ein Schultaxi. Ein Mädchen stieg aus. Die blonden, zum Pferde-schwanz gebundenen Locken verrieten unzweifelhaft, wer sie war: Anna Säntti hatte die gleichen Haare wie ihre Mutter.
»Stopp, Minna, halt an!« Ich sprang in den Schnee am Wegrand, noch ehe der Wagen ganz zum Stillstand gekommen war, und rief dem Mädchen nach:
»Anna! Warte mal!«
Sie drehte sich um, sah uns erwartungsvoll an, bis sie enttäuscht merkte, dass ihre Mutter nicht dabei war. Dennoch kam sie angelaufen, eine hoch aufgerichtete kleine Frau im dunkelgrünen Wollmantel, der aussah, als hätte sie ihn von ihrer Mutter geerbt.
Ich sagte ihr, wer wir waren, und fragte, ob es im Dorf ein Café gab, wo wir uns unterhalten konnten.
»So etwas gibt es hier nicht, die Leute trinken ihren Kaffee zu Hause.« Ihre Augen wirkten älter als die einer Dreizehnjährigen, ihr Körper war bereits voll entwickelt. »Wir können ja ein Stück fahren. In Richtung Viittakorpi, das ist eine schöne Strecke.«
Ich setzte mich neben Anna auf die Rückbank. Sie ähnelte beiden Elternteilen; ihr Gesicht war so fein geschnitten wie Johannas, verriet aber zugleich die Festigkeit und das Charisma ihres Vaters.
»Lange kann ich nicht bleiben, sonst wundert sich Maija-Leena, wo ich stecke. Am besten sage ich ihr, ich wäre früher ausgestiegen. Wollen Sie über meine Mutter mit mir sprechen?
Oje, der Opa!« Anna duckte sich blitzschnell, als wir einen Mann mit krummem Rücken passierten, der uns auf seinem Tretschlitten entgegenkam.
»Der Vater deiner Mutter?«
»Ja. Der würde schimpfen, wenn er mich mit Fremden in einem Auto gesehen hätte. Zum Glück seid ihr wenigstens Frauen.«
»Vermisst du deine Mutter?«
Anna lächelte herablassend, als wäre meine Frage völlig absurd.
»Natürlich! Ich wäre am liebsten mit ihr gegangen, alle anderen eigentlich auch, außer Johannes. Aber sie hat ja noch keine Wohnung. Ich will raus aus Karhumaa. Irgendwohin, wo ich Jeans tragen und fernsehen kann wie andere Menschen. Wissen Sie, wann Mutter wieder gesund ist und uns holen kann?«
»Deiner Mutter geht es schon viel besser. Hat sie euch das nicht gesagt, als sie hier war?«
»Doch. Sie sah auch ganz anders aus. Viel jünger, und sie hat wieder gelacht wie früher, bevor Simo und Maria geboren wurden. Johannes hat gesagt, Mutter ist eine Hure geworden, weil sie die Haare offen trägt und lange Hosen anhat. Aber Johannes ist dumm.«
Ich fragte mich, weshalb wir eigentlich mit Anna Säntti durch die Schneelandschaft fuhren. Was hoffte ich aus dem dreizehn-jährigen Mädchen herauszuholen, etwa den Beweis, dass ihr Vater oder ihre Mutter einen Menschen ermordet hatte?
»Maija-Leena versucht die Kleinen, vor allem Maria und Simo, dazu zu bringen, sie Mutter zu nennen, aber ich erkläre ihnen immer wieder, das ist unsere Tante, nicht unsere Mutter, die Mama kommt bald und holt uns hier raus. Aber es ist so schwer, den Kindern zu erklären, worum es geht … die Abtreibung und all das. Mir hätte Mutter es auch nicht erzählt, wenn ich sie nicht mit meinen Fragen gelöchert hätte. Aber wie soll ich mit einer Sechsjährigen darüber sprechen?«
Bei der nächsten Frage fühlte ich mich beschissen:
»Hast du jemals gehört, dass dein Vater Drohungen gegen deine Mutter ausgestoßen hat, oder gegen Elina Rosberg, die Frau, bei der deine Mutter gewohnt hat?«
»Die, die gestorben ist? Ich hab nur gehört, wie Vater zu Maija-Leena gesagt hat, Gott würde sie beide schwer prüfen, indem er Mutter die Abtreibung überleben lässt. Vater will diese blöde Maija-Leena heiraten! Und er sagt immer, die Glaubensbrüder müssten sich gegen Ärzte erheben, die Abtreibungen erlauben, so wie in Amerika. Reden kann er gut!« Annas Stimme war schneidend. »Seit Mutter weg ist, hat er mich aufs Korn genommen. Sogar nachts
Weitere Kostenlose Bücher