Lehtolainen, Leena
gab vor, glücklich und zufrieden zu sein. Am zweiten Feiertag ging ich mit Viivi ein Bier trinken, und sie berichtete von der gewonnenen Kreuzfahrt. Wir einigten uns darauf, sie am Wochenende nach Dreikönige zu machen, weil Viivis Kinder dann wieder beim Vater waren.
Noch am Neujahrstag überlegte ich, ob ich es wagen sollte, mich mit Karri zu treffen. Womöglich würden der Schmerz und das Gefühl, die Kontrolle zu verlieren, zurückkehren. Seine Mails klangen viel zu vertraut, ich erkannte in ihnen den Karri, den ich mehr geliebt hatte als mich selbst. Warum hatte er es mir nicht gesagt? Dass er kein Vertrauen zu mir gehabt hatte, verletzte mich, und das schrieb ich ihm auch.
»Ich hatte Angst, dich zu verlieren. Es fiel mir leichter, selbst Schluss zu machen. Ich weiß, das war falsch, aber ich konnte nicht anders«, antwortete er.
»Natürlich besuchst du ihn«, rief Viivi, als wir per Telefon unsere Reise besprachen. »Dann kommst du von ihm los und siehst endlich auch mal andere Männer an, zum Beispiel diesen Kode Salama.«
»Der ist schon vergeben.«
»Das verlangsamt die Sache höchstens …«, trällerte Viivi. Die Affäre mit ihrem Kollegen war vorbei, und auf der Fete nach dem Weihnachtskonzert hatte sie heftig mit dem Posaunenlehrer geflirtet. Das Konzert war ein Erfolg gewesen, obwohl alles auf eine Katastrophe hingedeutet hatte. Der tiefste Alt war nur mit drei Sängerinnen besetzt, von denen zwei ausgerechnet am Tag des Konzerts krank geworden waren. Daher hatte ich meine Stimme allein singen müssen, so laut ich konnte. Obwohl ich mir vorgekommen war wie eine Tuba, hatte ich nicht gepatzt.
Ich wunderte mich selbst über den metallischen, kräftigen und mutigen Klang meiner Stimme.
Auch mit meinem Auftritt bei der Adventsfeier der Kunstgruppen war ich zufrieden, trotz Saras Störaktionen. Ich war stolz darauf, dass ich mich nicht betrunken hatte, obwohl ich so nervös gewesen war. Trotzdem musste ich mir gründlich überlegen, ob ich wirklich ein Demoband machen wollte. Was dann, wenn sich niemand dafür interessierte? Seit Jahren hatte ich von einer eigenen Single geträumt, aber jetzt, wo es möglich schien, den ersten Schritt zur Verwirklichung meines Traums zu tun, hatte ich entsetzliche Angst. Vielleicht hatte ich mich damals in Karri verliebt, weil ich in ihm meine eigene Feigheit wiederfand.
Am Abend des Neujahrstages beschloss ich zum wer weiß wievielten Mal, ein neues Leben anzufangen, ein Leben ohne Feigheit. Ich schrieb Karri eine Mail.
»Ich komme am zwölften Januar nach Stockholm. Ich bin nur neun Stunden in der Stadt, aber wenn du Zeit hast, können wir vielleicht zusammen Kaffee trinken. Meine Freundin Viivi kommt mit, sie will in der Zwischenzeit shoppen gehen.«
Als ich am nächsten Tag den Computer anschaltete, war Karris Antwort bereits da:
»Toll! Treffen wir uns um elf an der Treppe zum Sergeltorg?
Von da ist es nicht weit zu uns.«
Ich trug den Treffpunkt in meinen Kalender ein und suchte ihn anschließend auf dem Stadtplan. In Stockholm kannte ich mich kaum aus. Für Reisen hatte ich nie Geld gehabt. Ich war bisher zweimal in Tallinn gewesen und einmal mit unserer Fachschaft in London. Als ich zwölf und Kaitsu neun war, waren Veikko und Mutter mit uns auf die Kanarischen Inseln geflogen. Für alle außer Veikko war es der erste Flug gewesen, und wir hatten entsetzliche Angst gehabt, auch wenn Kaitsu es natürlich nicht zeigen wollte. Veikko hatte sich Mühe gegeben, unsere Launen zu ertragen, aber schon am zweiten Tag war ihm der Kragen geplatzt, und er war von da an seine eigenen Wege gegangen.
Mutter und ich hatten uns auf dieser Reise einen schlimmen Sonnenbrand geholt.
Während der Weihnachtsferien saß ich ganz allein im musikwissenschaftlichen Institut und feilte an meiner Magisterarbeit.
Helsinki schien unter seiner dicken Schneedecke zu schlafen, alle Geräusche waren gedämpft. Nur der Wind gab keine Ruhe, er blies über den Senatsplatz und stäubte mir Schnee ins Gesicht. Nachts brachte er meine Fenster zum Klingen und übertönte alle anderen Geräusche, die Staubsauger der Nachbarn ebenso wie laute Stereoanlagen.
Das Studentenfeedback zu meinem Seminar wagte ich kaum anzuschauen, denn ich rechnete mit harter Kritik. Doch solange der Umschlag ungeöffnet vor mir lag, konnte ich mich nicht auf das letzte Kapitel konzentrieren, das ich noch überarbeiten musste. Also zwang ich mich, die Fragebogen zu lesen. Sechs Teilnehmer hatten eine
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