Lehtolainen, Leena
noch nicht hoch«, stöhnte Viivi. »Geh schon mal vor, ich ruf dich an, wenn ich in der Stadt bin. Hoffentlich gibt’s im Terminal Kaffee!«
Ich hatte keinen Kater, war aber innerlich ganz leer und fühlte eine Panik aufsteigen, die durch die Menschenmenge um mich herum noch verstärkt wurde. Um Zeit zu sparen, frühstückte ich gleich im Terminal. Der nächste Shuttle-Bus ins Zentrum fuhr um halb elf, sodass ich pünktlich am Sergeltorg eintreffen würde. Im Bus klappte ich die Puderdose auf und betrachtete mein Gesicht in dem kleinen Spiegel. Es war blass, unter den Augen lagen dunkle Schatten. Ich versuchte, sie mit Puder abzudecken, der sich jedoch in den Fältchen absetzte.
Auf der Treppe am Sergeltorg saßen Ausländer, Junkies und Punker. Früher, als ich noch mit Karri zusammenlebte, hätte ich sie interessant gefunden. Jetzt aber ging ich ans obere Ende der Treppe, weit weg von allen anderen. Der Wind wehte mir die Haare ins Gesicht, ich zog den Mantel enger zusammen. Als mir jemand eine Antidrogenzeitung verkaufen wollte, gab ich vor, kein Schwedisch zu verstehen.
Es wurde elf, dann zehn nach elf. Karri hatte also immer noch die Angewohnheit, sich zu verspäten. Ich hatte nicht einmal seine Telefonnummer. Vielleicht hatte er sich im Datum geirrt.
Bei dem Gedanken fühlte ich mich erleichtert. Wenn er nicht bald auftauchte, konnte ich mir irgendwo einen Drink genehmi-gen. Da tippte mir jemand auf den Rücken. Karri.
Es fiel mir schwer, seine freundschaftliche Umarmung zu erwidern.
»Entschuldige die Verspätung, hoffentlich bist du nicht erfroren«, sagte er fürsorglich. »Komm, wir gehen zu Fuß, es ist nur ein Kilometer bis zu uns. Ich freue mich so, dich zu sehen!«
Wir gingen in Richtung Norden, durch Straßen, deren Namen mir nichts sagten. Ich sah unser Spiegelbild in jedem Schaufenster: Karri im langen, eleganten Wintermantel, die Haare geföhnt, mit modischem Bart. Ich trug Jeans und einen Kurzmantel, alles an mir war billig und verbraucht.
»Samuli hat Probe, kommt aber sicher zum Mittagessen. Wann geht dein Schiff?«
»Um sechs.« Ich dachte an Viivi, die sich vorgenommen hatte, in den Boutiquen nach Dingen zu stöbern, die man in Finnland nicht bekam. Vielleicht gab es so etwas gar nicht mehr.
»Ich habe gestern meine Magisterarbeit abgegeben«, sagte ich, da mir sonst nichts einfiel. Karri machte lange, schnelle Schritte, wie früher. Schließlich blieb er vor einer Haustür stehen, an der geschnitzte Elchköpfe prangten, und schloss auf. Wir fuhren mit dem Aufzug in den fünften Stock.
»Das Opernhaus hat uns eine Dienstwohnung zur Verfügung gestellt. Schade, dass du nicht über Nacht bleiben kannst, heute Abend wird ›Figaros Hochzeit‹ gegeben. Na, vielleicht ein andermal.«
Als wir vor vielen Jahren gemeinsam durch die Möbelhäuser gezogen waren, hatte Karri von Chrom und schwarzem Leder, von großen Vasen und harmonischen Bildern geträumt, und in dieser Wohnung hatte er sich seinen Traum verwirklicht.
Überall war es auffällig sauber. Entweder war Samuli bereit, hinter Karri aufzuräumen, oder die beiden hatten eine Putzhilfe.
Als Karri mir den Mantel abnahm, wunderte ich mich, wie natürlich mir die kleine Berührung fast schon erschien. Ich gab ihm die Weinflasche, obwohl ich überzeugt war, dass er inzwischen an kostspieligere Weine gewöhnt war. Der Leder-sessel, in den ich mich setzte, war bequem, ich konnte sogar die Beine hochlegen, doch ich war alles andere als entspannt. Karri erkundigte sich nach gemeinsamen Bekannten und erzählte mir von seiner Arbeit. Im Frühjahr würde er seine Dissertation verteidigen.
»Deine schwere Krankheit damals …«, begann er schließlich, nachdem er uns ein Glas Wein als Aperitif eingeschenkt hatte.
»War das eine Anorexie oder …«
»Bulimie. Verbunden mit einer Depression.«
»Mein Gott! Wegen mir?«
»Für so etwas gibt es nie nur einen einzigen Grund«, antwortete ich, wie es im Lehrbuch stand. Es amüsierte mich beinahe, dass Karri glaubte, er habe so viel Macht über mich gehabt und ganz allein meine Krankheit ausgelöst. »Es war nicht deine Schuld. Du bist, wie du bist, und deshalb war ich die Falsche für dich.«
»Du warst die Richtige für mich, doch ich der Falsche für dich«, deklamierte Karri. »Das ist von Eeva Kilpi.«
Ich prustete unwillkürlich los. Karri sah mich verwundert an.
»Okay, das klingt simpel, aber banal ist es nicht«, bemerkte er.
»Das meinte ich auch nicht. Mir ist nur gerade ein
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