Lehtolainen, Leena
Ich ging gegen elf. In den nächsten Wochen ließ ich meiner Kreativität freien Lauf. Ein Bild nach dem anderen entstand. Ich hatte das Atelier der Volkshochschule für eine Woche reserviert, doch ich konnte einfach nicht aufhören, solange ich voller Farben und Bilder steckte. Der Kerl, der nach mir an der Reihe war, meckerte zwar, aber ein wahrer Künstler kümmert sich nicht um Zeit und Raum. Wenn ich Kunst schaffe, vergesse ich Essen und Schlafen. Ich kann diese sogenannten Künstler nicht verstehen, die wie die Beamten morgens aufstehen, frühstücken, dreieinhalb Stunden arbeiten, zu Mittag essen, wieder dreieinhalb Stunden arbeiten, um dann die Kinder aus dem Hort zu holen und das Abendessen für die Familie zuzube-reiten. Kunst, die von innen kommt, kann auf diese Weise nie entstehen.
Letzten Endes musste ich den schöpferischen Prozess dann doch abbrechen, weil dieser unsägliche Mann mit dem Haus-meister und dem Leiter der Kunstabteilung anrückte, die mich aufforderten, das Atelier sofort zu räumen. Ich brauchte unbedingt ein eigenes. Spontan setzte ich einen Hunderter im Lotto.
Vielleicht hatte ich diesmal Glück. Bisher hatte ich immer nur ein oder zwei Richtige gehabt, also wurde es Zeit, dass sich das Blatt wendete.
Besonders zufrieden war ich mit den Gemälden, die Vaters Tod darstellten. Ein dunkles Zimmer, bleiche Gesichter, strö-
mendes Blut und ich im weißen Nachthemd mit blutigem Saum.
Auf einem Bild steht Rane vor einem Kreuz und aufzüngelnden Flammen. Mein Stil liegt irgendwo zwischen Naivismus und Surrealismus. Aber warum soll man ihn überhaupt definieren, es ist eben Sara Selin! Ich musste unbedingt eine eigene Ausstellung haben! Doch alle Galeristen, die ich anrief, fragten als Erstes, welche Kunstakademie ich besucht hatte. Als brauchten Künstler eine Ausbildung! Zwei Kunstcafés zeigten immerhin Interesse, machten aber einen Rückzieher, als sie hörten, wie groß meine Werke sind. Ich pinsele keine zaghaften Bildchen, sondern große, kühne Arbeiten, mindestens drei auf zwei Meter.
Zwei Wochen vor der Reise auf die Malediven überkamen mich gleichzeitig fürchterliches Reisefieber und eine grenzenlo-se Beklemmung. Bei der unsicheren Weltlage konnte alles Mögliche passieren. Ich erstellte mir sofort ein numerologisches Zukunftsbild, in dem jedoch keine Katastrophen zu erkennen waren. Keine Terroristen, die mein Flugzeug entführen oder mich kidnappen würden. Ich glaube auch deshalb an die Numerologie, weil Vaters und Ranes Ziffern beiden ein gewalt-sames Ende prophezeien. Mein Leben wird noch Jahrzehnte weitergehen und wie guter Wein mit zunehmendem Alter immer besser werden. Das heißt, ich altere natürlich nicht, ich werde immer jünger und gelenkiger.
Ich bin eben ganz anders als Sirkka. Natürlich musste ich mich vor meiner Reise von dem armen Kaitsu verabschieden. Sirkka war zufällig zur gleichen Zeit bei ihm. Sie hatte ihm eine neue Hose gekauft, eine schlabbrige dunkelblaue Jogginghose. Kaitsu tat mir wirklich leid. Nun musste er auch noch Altmännerhosen tragen!
»Warum kaufst du ihm so was?«, zischelte ich, als Kaitsu mit dem Rollstuhl ins Bad gefahren war. Er konnte mittlerweile allein auf die Toilette gehen, worauf Sirkka stolz war wie die Mutter eines Kleinkinds, das gelernt hat, den Topf zu benutzen.
»Die Hose ist doch gut! Leicht anzuziehen und scheuert nirgends.«
»Behinderte haben doch wohl das Recht, sich schick anzuziehen?«
»Kaitsu ist nicht behindert! Er wird wieder gesund.«
In dem Moment rollte Kaitsu seinen Stuhl aus dem Bad, und Sirkka wechselte das Thema. Sie sprach über eine widerwärtige Kollegin in der Buchhandlung. Für Kaitsu war das natürlich langweilig, und ich fand es ohnehin unpassend, ihn mit negati-ven Dingen zu belasten. Um den Jungen aufzumuntern, erzählte ich von meinen Reiseplänen.
»Ich freue mich schon so darauf, unserem sogenannten Vor-frühling eine Weile zu entkommen! Guckt doch bloß mal zum Fenster raus! Nichts als Matsch, Schneeregen und Dunkelheit, als hätten wir November und nicht März. Aber in einer Woche schwimme ich unter dem südlichen Sternenhimmel in warmem Wasser und lasse mir von gutaussehenden Kellnern Fruchtsaft servieren. Einen Tenniskurs will ich auch machen, die werden dort angeboten. Ich habe noch nie Tennis gespielt. Und ihr?«
Beide schwiegen. Bei ihrer Behäbigkeit hätte Sirkka ohnehin nie einen Ball erwischt. Im Gegensatz zu mir hatte sie überhaupt kein Gefühl für Rhythmus. Kaitsu
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