Lehtolainen, Leena
Erleichterung: Jetzt passiert es, gleich ist es überstanden. Das gleiche Gefühl hatte ich, als Eero mich verließ. Jetzt ist er weg, jetzt kommt die Schande, aber bald verschwindet sie auch wieder wie die Bräune vom letzten Sommer.
Sara hält mich für stark und kaltblütig, für unverwundbar.
Vielleicht bin ich sogar stark, aber manche Ereignisse erschüttern auch mich. Dianas Tod hat mich tief getroffen, und als ich den kleinen Blumenstrauß mit der Aufschrift »Mummy« auf dem Sarg sah, schnürte es mir den Hals zu. Kindertrauer ist einfach herzzerreißend, ob die Kinder nun Prinzen sind oder nicht. Als ich Sara davon erzählte, überflutete sie mich sofort mit ihrer eigenen Trauer um Diana, die eines ihrer Idole war.
Ihre Trauer wuchs ins Unermessliche, kam wie eine Lawine durch die Telefonleitung in meine Wohnung und begrub meine eigene Traurigkeit unter sich. So ist Sara.
»Versprich mir, dass du auf Sara aufpasst«, bat Mutter mich noch kurz vor ihrem Tod. »Dat Kindschen hat sein’ Platz im Leben noch nisch jefunden.«
Dat Kindschen – seit sie krank geworden war, sprach Mutter breiteren Dialekt als früher. Als sie noch im Laden arbeitete, hatte sie sich bemüht, Schriftsprache zu sprechen. Vater hatte sich auch darüber aufgeregt, weil er ihre Redeweise für affek-tiert hielt. Sara hatte von Zeit zu Zeit ihre Dialektphasen, sprach aber meist wie die Helsinkier, mit zischendem s. Mauri stammte aus Tampere und redete auch so, und ich schöpfte zum ersten Mal Verdacht, als Saras Redeweise die Färbung von Tampere annahm.
Schon auf dem Nachhauseweg fing ich an, die neue Binchy zu lesen. Meine geschwätzige Nachbarin, die in einer Bank in Tapiola arbeitet, winkte mir zu, doch ich tat, als bemerkte ich sie nicht. Zum Glück war der Bus so voll, dass sie sich nicht durchzwängen und neben mich setzen konnte. Es war Stoßver-kehr, die Fahrt dauerte fast eine halbe Stunde, sodass ich viele Seiten lesen und mich dabei nach Irland flüchten konnte. Mir kam der Gedanke, von dem Geld, das ich erben würde, tatsächlich nach Irland zu fahren. »Der Priester von Ballykissangel« ist auch eine schöne Fernsehserie.
Katja hatte eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter hinterlassen. Ich solle sie anrufen, es sei aber nichts Dringendes. Also kochte ich zuerst Kaffee und schmierte mir ein paar Brote. Dann wählte ich Katjas Nummer. Sie erzählte, an der Musikschule habe das Semester begonnen und man habe sie gebeten, am musikwissenschaftlichen Institut einen Kurs über Popmusik zu halten.
»Stell dir vor, ich soll unterrichten, obwohl ich noch gar keinen Abschluss habe! Es ist nur ein Proseminar mit zehn Vorlesungen, aber mein Prof ist zufrieden mit dem, was er bisher von meiner Magisterarbeit gesehen hat, deshalb hat er mich gebeten, für jemanden einzuspringen, der den Kurs eigentlich halten sollte.«
»Toll«, sagte ich, obwohl ich vermutete, dass es furchtbar schwierig war, an der Universität zu unterrichten. Ob Katja das Zeug dazu hatte?
»Übrigens, bei Großmutters Beerdigung ist mir plötzlich etwas eingefallen, was ich dich fragen wollte. Warum waren wir damals eigentlich nicht bei Onkel Ranes Beerdigung?«
Ich spürte, wie mein Körper steif wurde, als hätte man ihn mit Eisen ausgegossen.
»Ich war dabei. Ihr wart so lange bei den Kalmanlehtos.«
»Warum hast du uns nicht mitgenommen?«
»Ich wollte euch schonen, ihr hattet damals Kummer genug.«
Katja schwieg eine Weile, ich hörte ein Kratzen, als ob sie etwas aufschrieb.
»Wie hat Großmutter auf Ranes Tod reagiert?«
»So, wie eine Mutter eben auf den Selbstmord ihres Kindes reagiert. Sie war völlig gebrochen. Was sollen denn diese Fragen, du bist ja wie Sara!«
Sara hat mich gezwungen, mit ihr gemeinsam alte Erinnerungen auszugraben und immer wieder zu analysieren, sie hat mich nach Tonfall und Gesten ausgefragt und wissen wollen, was jeder von uns wann angehabt hatte. Ich hatte nicht mehr die Kraft, über meine Erinnerungen zu sprechen, nicht einmal mit meiner Tochter.
»Wie Sara, aha«, sagte Katja mit kalter, metallischer Stimme.
»Tschüs.«
Ich stand mit dem Hörer in der Hand da. Der Gedanke, dass die Szene, die ich gerade erlebt hatte, wie aus einem Buch von Maeve Binchy war, tröstete mich ein wenig, doch lächeln konnte ich nicht. Vielleicht würde es Katja guttun, Unterricht zu geben, ihre Arbeit als Platten- und Konzertkritikerin ist nämlich eine ziemlich unsoziale Beschäftigung, bei der sie nie lernen wird, sich anderen
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