Lehtolainen, Leena
sagte Riitta nach dem zweiten Durchgang.
»Nochmal.«
Beim dritten Versuch schaffte ich es, mich von der Musik mitreißen zu lassen. Danach war Verdi an der Reihe, die entsetzliche Arie der Zigeunerin aus dem »Troubadour«. Die Geschichte des ins Feuer geworfenen Kindes bedrückte mich so sehr, dass ich bisher nicht gewagt hatte, mich auf die Musik einzulassen, doch nun zwang ich mich, an Entsetzen und Tod zu denken. Es war ganz leicht: Ich brauchte mir nur die Mutter-tagsnacht vor mehr als zwanzig Jahren auszumalen, das Blut und die Kälte.
»Gut, gut!«, rief Riitta, als mir sogar die fürchterlichen Koloraturen gelangen, obwohl meiner Stimme die nötige Geschmeidigkeit fehlte. Nach der Stunde war ich so erledigt, dass ich es kaum noch schaffte, mich in den kleinen Laden an der Ecke zu schleppen. Doch es musste sein, ich hatte weder Obst noch Reis oder Nudeln im Haus. Ich fühlte mich wie nach einem Dauerlauf.
»Hallo, Katja«, sagte jemand hinter mir. Ich drehte mich um und sah Pekka Kalmanlehto mit seinem breiten Grinsen.
»Tag«, sagte ich müde und nahm hastig ein Paket Reis-Gersten-Mischung aus dem Regal.
»Wohnst du auch hier in der Nähe?«
»In der Orioninkatu.«
»Aha. Ich habe mir eine Einzimmerwohnung in der Sturenkatu gekauft, bin gerade dabei, sie zu renovieren.«
Natürlich, er hatte reiche Eltern und konnte sich eine eigene Wohnung leisten.
»Ich musste ziemlich viel Kredit aufnehmen, aber zum Glück hab ich bei Blitz einen guten Job.«
»Was war es noch gleich, was du da machst?«, fragte ich, obwohl es mich eigentlich gar nicht interessierte. Aber da er ein Kollege von Kode Salama war, musste ich mich um ein gutes Verhältnis zu ihm bemühen.
»Ich arbeite als Tontechniker und teils auch als Mixer. Kode ist der Produzent.«
»Aha.« Mein Handy klingelte, ich sah, dass Viivi anrief.
Das war eine gute Gelegenheit, Pekka loszuwerden. Ich machte eine entschuldigende Geste und nahm das Gespräch an. Pekka ging zur Kasse. Als er mir zum Abschied zuwinkte, setzte er wieder sein strahlendes Lächeln auf, das man einfach erwidern musste.
Das Leben ging weiter wie in dem Lied von Luonteri Surf, in dem die Stimmung hundertmal am Tag wechselt. Mal war ich fröhlich und voller Ideen, dann wieder betrachtete ich die Welt durch ein Schnapsglas und sah nur noch schwarz. Viel zu oft träumte ich von Kode Salama. Wenn die vertraute Stimme aus den Lautsprechern kam, setzte ich den Mann skrupellos mit seinen Liedern gleich. Ich hatte seine Nummer auf meinem Handy gespeichert, um immer wieder den Namen Kode zu sehen, wenn ich die Liste durchsah. Ich wusste genau, dass ich für den Rest meines Lebens ein Teenager bleiben würde.
Im Kurs über die Rockmusik der 1980er Jahre herrschte eine gute Stimmung, obwohl die Teilnehmerzahl auf sechs gesunken war. Für die drei letzten Doppelstunden ergatterte ich sogar das Musikzimmer des Instituts, wo wir begeistert drauflosjammten.
Das jüngste der Mädchen, das selbst in drei sehr unterschiedlichen Bands spielte, hielt ein hervorragendes Referat über die Musik der Gruppe Yö und ihre Strukturen. Ich bat sie, ihre Ausführungen in meiner Magisterarbeit zitieren zu dürfen, obwohl ich wusste, dass das Referat einer Studentin im dritten Semester keine wissenschaftliche Quelle ist. Ich hatte mit mir selbst abgemacht, dass ich nach jeder Vorlesung drei Cola mit Schuss trinken durfte. Ein paarmal hielt ich mich sogar daran.
Solche Abkommen hatte ich mein ganzes Leben lang geschlossen. Meist hatten sie mit Essen oder Alkohol zu tun: Wenn ich drei Stunden für die Prüfung lerne, bekomme ich zur Belohnung ein Softeis. Wenn ich bei der Semesterprüfung wenigstens eine Drei schaffe, darf ich mir eine Flasche Schnaps kaufen. Oft setzte ich einen regelrechten Vertrag auf und unterschrieb ihn, zerriss ihn aber meist schon am nächsten Tag.
Eines Vormittags, als ich gerade an meiner Magisterarbeit schrieb, klingelte das Handy. Der Name auf der Nummernanzeige jagte mir Adrenalin durch die Adern: Kode.
»Katja«, meldete ich mich zögernd, als wüsste ich nicht, wer der Anrufer war.
»Kode Salama, hallo. Wie kommst du mit deiner Arbeit voran?«
»Gut«, stotterte ich. Mein Herz pochte heftiger als der Bass in den Songs von Pojat.
»Mir fiel neulich ein, dass ich irgendwann mal Joey Ramone für Radio Mafia interviewt hab, in der gleichen Sendung habe ich dann auch noch Heko Luumäki und Pekka Kerminen ans Mikrofon geholt. Ich habe den Mitschnitt inzwischen auf
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