Leibniz war kein Butterkeks
können wir uns vorstellen, was es bedeuten würde, wenn wir uns in ihrer Lage befänden. Und aus dieser » Perspektive des anderen « heraus würden wir uns wünschen, dass seine Interessen ebenso fair berücksichtigt würden wie unsere eigenen Interessen. Nichts anderes verlangt das »Prinzip der gleichen Berücksichtigung gleichrangiger Interessen«.
Okay. Aber du wirst doch sicher zugeben, dass eine solche Perspektivenübernahme manchmal nur schwer möglich ist, oder? Bei netten Leuten aus unserem persönlichen Umkreis mag das ja noch leichtfallen, aber wie sieht das bei Menschen aus, die wir gar nicht kennen oder die Dinge tun, die wir verabscheuen? Darüber hinaus kann ich mir auch nur sehr schwer vorstellen, was es bedeuten soll, die Perspektive eines Huhns oder einer Sau einzunehmen und von dieser Warte aus zu beurteilen, welche Interessen wir wie berücksichtigen sollten.
Natürlich fällt es uns leichter, gegenüber Menschen aus unserem nächsten Umfeld Mitgefühl zu entwickeln. Deshalb ist es auch kein Wunder, dass es in der Bibel heißt: »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!« – statt: »Liebe deinen Fernsten wie dich selbst!« Dennoch kann man im Verlauf der Menschheitsgeschichte eine zunehmende Erweiterung des Adressatenkreises für altruistische Empfindungen feststellen (auch wenn es dabei schreckliche Einbrüche – wie in der Zeit des Nationalsozialismus – gab): Am Anfang bezogen sich die ethischen Empfindungen fast ausschließlich auf die eigene Sippe, danach auf gesellschaftliche Teilgruppen, später auf alle Mitglieder einer Gesellschaft und schließlich (etwa mit der UNO-Menschenrechtserklärung) auf alle Angehörigen der Spezies Homo sapiens. Warum sollten wir an dieser Stelle haltmachen und das »Prinzip der gleichen Berücksichtigung gleichrangiger Interessen« nicht auch auf andere Lebewesen ausdehnen? Ich gebe zwar zu, dass es schwerer ist, sich in Individuen hineinzuversetzen, die nicht zu unserer Art gehören. Doch mittlerweile verfügen wir über genügend Daten hinsichtlich der Fähigkeiten und Bedürfnisse nicht menschlicher Tiere. Wir wissen, dass hoch entwickelte Tiere die grundlegenden Emotionen mit uns teilen: Sie empfinden Lust und Schmerz, Freude und Trauer. Natürlich können wir unsere Empfindungen nicht eins zu eins auf sie übertragen, aber dass wir uns überhaupt keine Vorstellungen davon machen können, was es für ein Schwein bedeutet, in einer Fleischfabrik sein Dasein zu fristen, ist definitiv falsch!
In Ordnung. Wie du weißt, sehe ich das ja eigentlich genauso. Ich frage mich aber, was wir aus dem, was du eben gesagt hast, folgern sollten: Wenn Mitgefühl letztlich der Grund dafür ist, dass wir ethisch handeln, heißt das nicht, dass unethische Handlungen auf fehlendem Mitgefühl beruhen? Wären demnach ungerechte Verhaltensweisen weniger ein Problem des Verstandes als ein Problem unserer Gefühle?
Nun, ich würde nicht so strikt zwischen Verstand und Gefühl trennen, schließlich werden unsere Emotionen durch unsere Kognitionen beeinflusst – und umgekehrt. Im Großen und Ganzen stimme ich dir aber zu: Wenn wir zu größerer Empathie, also zu tieferem Mitgefühl, fähig wären, würde es in der Weltgesellschaft zweifellos gerechter zugehen! Unter dieser Voraussetzung könnten wir auch das wirklich erstaunliche Potenzial entfalten, das in uns »nackten Affen« steckt: Denn der Mensch hat, wie der Evolutionsbiologe Stephen J. Gould einmal anmerkte, von seiner biologischen Veranlagung her nicht nur das Talent, ein besonders kluges , sondern auch ein besonders freundliches Tier zu sein …
Ach ja?! Dann hat der Mensch es aber in der Geschichte hervorragend geschafft, dieses Talent zu verbergen!
Stimmt. Doch die Gründe dafür, warum wir unser Talent zur Freundlichkeit nur so selten verwirklichen konnten, sind ein Thema für sich. Wenn du magst, können wir gerne morgen darüber sprechen …
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»Was ist Gerechtigkeit?« Bis in die Neuzeit hinein dominierten religiöse Antworten auf diese Frage. Als »gerecht« galt, was »Gottes Geboten« entsprach. Folglich wurde das Töten von »Hexen« nicht als Unrecht empfunden. Schließlich hatte Jahwe (vor rund 3500 Jahren als »Berggottheit« eines kleinen Beduinenstammes am Fuße des gleichnamigen Gebirges im Ostjordanland »geboren«, später zum »Gott Israels« aufgestiegen, heute auch als »Gottvater« der Christenheit und »Allah« der Muslime bekannt) im zweiten Buch Mose (Exodus 22,17)
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