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Leibniz war kein Butterkeks

Titel: Leibniz war kein Butterkeks Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Lea; Schmidt-Salomon Salomon
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ausdrücklich dazu aufgerufen, keine »Hexe« am Leben zu lassen.
    Im 17. Jahrhundert begann allmählich der Prozess der Säkularisierung (Verweltlichung) der Gerechtigkeitsvorstellungen. An die Stelle der »göttlich vorgegebenen Gerechtigkeitsordnung« trat die Idee des »Gesellschaftsvertrages«, die von den Philosophen Thomas Hobbes (1588–1679), John Locke (1632–1704) und Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) entwickelt und im 20. Jahrhundert durch den amerikanischen Philosophen John Rawls (1921–2002) präzisiert wurde. Grundlegend für das Konzept des Gesellschaftsvertrages ist die Vorstellung, dass ethische oder politische Werte den Menschen nicht von einer »höheren Instanz« vorgegeben sind, sondern von den Gesellschaftsmitgliedern untereinander im eigenen Interesse ausgehandelt werden. In gewisser Weise griffen die Vertragstheoretiker damit eine Idee Epikurs (341–271) auf, der »Gerechtigkeit« nicht als eine von den »Göttern« oder der »Natur« vorgegebene objektive Tugend betrachtete, sondern als eine intersubjektive Übereinkunft , »die einen Nutzen im Auge hat, nämlich einander nicht zu schädigen«.
    Die Überzeugung, dass gesellschaftliche Normen nur dann akzeptabel sein können, wenn sie mit einem individuellen und gesellschaftlichen Nutzen verbunden sind, wurde Anfang des 19. Jahrhunderts bestärkt durch die philosophische Schule des Utilitarismus (vom lateinischen Wort »utilitas« = »Nutzen«), die maßgeblich durch die britischen Philosophen Jeremy Bentham (1748–1832) und John Stuart Mill (1806–1873) geprägt wurde. Bentham und Mill zeigten auf, dass ethische Normen nicht »an sich« gültig sind, sondern nur unter der Voraussetzung, dass sie zum »größtmöglichen Glück der größtmöglichen Zahl« beitragen. Von diesem Prinzip ausgehend kamen sie zu Denkergebnissen, die ihrer Zeit weit voraus waren: So forderten sie allgemeine Wahlen inklusive Frauenstimmrecht (was in den meisten europäischen Ländern erst nach dem 1. Weltkrieg verwirklicht wurde), die Abschaffung der Todesstrafe (die in Deutschland nach dem 2. Weltkrieg erfolgte, in den USA noch immer nicht) und die Legalisierung der Homosexualität (was in Deutschland erst in den 1970er-Jahren geschah). Wegen derart »ungebührlicher Forderungen« waren Bentham und Mill in religiös-konservativen Kreisen schnell als »Atheisten« (Gottesleugner) und »Demokraten« (zur Zeit der »Vermählung von Thron und Altar« noch ein Schimpfwort) verschrien. Auch in der (weitgehend von konservativen Kräften bestimmten) deutschen Universitätsphilosophie wurden sie nicht ernst genommen – mit Nachwirkungen bis in die heutige Zeit hinein.
    Rufschädigend für die Utilitaristen war nicht bloß, dass sie Vorreiter der Demokratie, des Feminismus, des Antirassismus und der rechtsstaatlich garantierten Freiheitsrechte waren, sie waren sogar »verrückt« genug, sich für Tierrechte zu engagieren! So schrieb Bentham in den Tagen der Französischen Revolution: »Die Franzosen haben bereits entdeckt, dass die Schwärze der Haut kein Grund ist, ein menschliches Wesen hilflos der Laune eines Peinigers auszuliefern. Vielleicht wird eines Tages erkannt werden, dass die Anzahl der Beine, die Behaarung der Haut oder die Endung des Kreuzbeins ebenso wenig Gründe dafür sind, ein empfindendes Wesen diesem Schicksal zu überlassen. Was sonst sollte die unüberschreitbare Linie ausmachen? Ist es die Fähigkeit des Verstandes oder vielleicht die Fähigkeit der Rede? Ein voll ausgewachsenes Pferd aber oder ein Hund ist unvergleichlich verständiger und mitteilsamer als ein einen Tag oder eine Woche alter Säugling oder sogar als ein Säugling von einem Monat. Doch selbst wenn es anders wäre, was würde das ausmachen? Die Frage ist nicht: können sie verständig denken? oder: können sie sprechen? sondern: können sie leiden?«
    Welches Dynamit in diesen Zeilen steckte, zeigte sich 200 Jahre später, als der australische Philosoph Peter Singer (*1946) Benthams Argumente aufgriff und systematisierte. Kein philosophisches Werk der jüngeren Vergangenheit hat einen derartigen Sturm der Entrüstung ausgelöst wie Singers Buch »Praktische Ethik«, das 1979 in englischer und 1984 in deutscher Sprache erschien. Leider wurden Singers Argumente in der Debatte meist völlig entstellt: Sein Anliegen, die Rechte der Tiere aufzuwerten, wurde als Versuch gedeutet, fundamentale Rechte des Menschen zu entwerten. Aus seinen humanen Argumenten zur Legitimation der

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