Leibniz war kein Butterkeks
Sterbehilfe machten seine Kritiker inhumane Aufrufe zum Töten von Behinderten. Die Anti-Singer-Hysterie ging so weit, dass der antifaschistisch und linksliberal denkende Philosoph, dessen Großeltern im KZ ermordet worden waren, von Kirchenvertretern, Politaktivisten und Journalisten als Vertreter von Nazi-Parolen verunglimpft wurde und nach massiven Protesten in Deutschland nicht mehr auftreten konnte. Nur sehr wenige hatten den Mut, sich diesem Wahn entgegenzustellen: Die Frauenrechtlerin Alice Schwarzer (*1942) zeigte diese Courage, als sie 1994 in der Zeitschrift »Emma« einen Artikel mit dem Titel »Freund Singer« abdrucken ließ, was jedoch postwendend mit einem Überfall auf die »Emma«-Redaktion geahndet wurde.
Auch der deutsche Sozialphilosoph Norbert Hoerster (*1937) sah sich heftigen Angriffen ausgesetzt, da er in Fragen der Sterbehilfe und des Embryonenschutzes zu ähnlichen (keineswegs identischen!) Ergebnissen gekommen war wie Peter Singer. Es half Hoerster nicht, dass seine Beiträge zu einer »interessenfundierten Ethik« äußerst differenziert waren, denn diejenigen, die gegen seine Veranstaltungen protestierten (einige konnten nur unter Polizeischutz stattfinden), kannten seine Werke meist nur vom Hörensagen. Die Anfeindungen nahmen letztlich solche Ausmaße an, dass Hoerster seinen Philosophie-Lehrstuhl an der Universität Mainz aufgab und sich 1998 vorzeitig pensionieren ließ.
Man fragt sich, woher der irrationale Hass gegenüber rationalen Ethikern wie Bentham, Mill, Singer oder Hoerster herrührt: Sehen wir hier bloß das Ergebnis einer gut funktionierenden ideologischen Propagandamaschine? Oder steckt mehr dahinter? Könnte es sein, dass die Unterschiede in den ethischen Begründungsmustern, die Lawrence Kohlberg (1927–1987) in seinen Studien zur moralischen Entwicklung entdeckte [siehe das vorangegangene Gespräch], dabei eine tragende Rolle spielen? Immerhin waren Bentham und Mill beziehungsweise sind Singer und Hoerster dezidiert postkonventionelle Denker . Dass ihre Argumente bei konventionell eingestellten Menschen auf Widerstand stoßen, ist nicht verwunderlich: Wer selbst auf der vierten Stufe der Moralentwicklung stehen geblieben ist, der sieht in postkonventionellen Überlegungen keinen »Fortschritt«, sondern den »Untergang aller Sittlichkeit«.
Doch so verständlich die konventionelle Abneigung gegen postkonventionelle Gedankengänge sein mag, sie wird zunehmend zu einem Problem: Denn die brennenden Fragen der Bioethik (unter anderem: »Ist Gentherapie zulässig?« »Dürfen wir Gehirne optimieren?« »Sollten wir therapeutisches Klonen erlauben?«) lassen sich auf konventionelle Weise nicht mehr beantworten. Wir sind hier dringend auf postkonventionelle Lösungsmodelle angewiesen. Wie solche Lösungsmodelle aussehen könnten, haben in Deutschland neben Norbert Hoerster vor allem die Philosophen Dieter Birnbacher (*1946) und Franz Josef Wetz (*1958) gezeigt. Würden wir ihre wohldurchdachten Vorschläge beherzigen, könnten wir viel unnötiges Leid vermeiden und für gerechtere Verhältnisse sorgen. Doch dürfen wir damit rechnen, dass dies in absehbarer Zeit geschieht? Wohl kaum! Denn noch immer gibt es viel zu viele politische Entscheidungsträger, die sich von der Zwangsjacke althergebrachter Konventionen nicht befreien können. Und so wird die Politik des 21. Jahrhunderts noch immer von Traditionalisten bestimmt, die ausgerechnet von einer 3500 Jahre alten Berggottheit aus dem Ostjordanland Antworten auf die drängenden Fragen unserer Zeit erwarten …
Dabei hat schon der geniale britische Mathematiker, Philosoph und Literaturnobelpreisträger Bertrand Russell (1872 bis 1970) deutlich gemacht, wie notwendig die Befreiung von konventionellen Moralvorstellungen für den gesellschaftlichen Fortschritt wäre. In seinem (von John Stuart Mill inspirierten) Essay » Warum ich kein Christ bin « heißt es: »Eine gute Welt braucht Wissen, Güte und Mut, sie braucht keine schmerzliche Sehnsucht nach der Vergangenheit, keine Fesselung der freien Intelligenz durch Worte, die vor langer Zeit von unwissenden Männern gesprochen wurden.« Russell schrieb seine eindringliche Warnung vor den »Gegnern des Fortschritts und aller Verbesserungen, die das Leiden in der Welt verringern könnten«, vor mehr als 80 Jahren. Bedauerlicherweise ist sie bis zum heutigen Tag aktuell geblieben.
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Warum sind Menschen oft so grausam?
Du hast gestern gesagt, dass der Mensch das
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