Leiche in Sicht
würden.»
«Das finde ich sehr vernünftig», sagte
Mr. Pringle und blickte gedankenverloren aus dem Fenster. Unten im Garten
leerte seine Schwester Enid gerade eine Gießkanne mit der Aufschrift «Gift»
über einem renitenten Löwenzahn auf ihrem Gartenweg. Diese Tätigkeit paßt zu
ihr, dachte Mr. Pringle. «Entgegen der Meinung deiner Mutter», begann er,
während er sie weiter beobachtete, «können wir im Moment nur wenig mehr tun als
versuchen, die nächstliegende Frage zu beantworten.»
«Und die wäre?»
«Warum? Was für einen Grund gab es,
Elizabeth zu töten?»
«Ich hatte angenommen, das, was ihr
passiert ist, sei eine Wiederholung des Vorfalls in Spartahouri — nur mit viel
schlimmerem Ausgang.»
«Aber wieso hat sie sich dann nicht
gewehrt und geschrien?»
«Vielleicht hat sie ja geschrien»,
sagte Matthew leise. «Aber die Lichtung lag ja doch etwas entfernt. Und
außerdem war das Kofferradio der Hansons auf volle Lautstärke gestellt. Da hätte
sie sich die Lunge aus dem Hals schreien können, wir hätten sie nicht gehört.»
«Das arme Mädchen!»
«Und was die Frage angeht, ob sie sich
gewehrt hat... Liz hatte an Armen und Beinen etliche Verletzungen. Ich weiß,
wovon ich rede, ich habe sie gesehen.»
«Aber die könnte sie sich auch
hinterher zugezogen haben — beim Sturz die Felsen hinunter. Das Ergebnis der
Leichenschau war, was diesen Punkt betrifft, nicht eindeutig.» Mr. Pringle
blickte seinen Neffen an und erschrak. Der Junge sah aus wie ein Gespenst. «Es
tut mir leid, Matthew. Diese Diskussion anzufangen war gedankenlos von mir.
Betrachten wir lieber einen anderen Aspekt. Einmal angenommen, ein Kampf hat
stattgefunden, was ist dann mit dem Angreifer? Der müßte doch auch etwas
abbekommen haben: Kratzer, zerrissene Kleidung, irgend etwas in der Art.»
«Aber wir haben die meisten Leute doch
erst am späten Vormittag des nächsten Tages wiedergesehen», wandte Matthew ein.
«Da hatte der Angreifer, wer immer es auch war, inzwischen jede Menge Zeit,
sich seiner zerrissenen Kleidung zu entledigen und etwaige Verletzungen zu
versorgen.»
«Alle in Frage kommenden Männer sind
aber doch verheiratet — glaubst du, es wäre möglich, daß X die Spuren eines
Kampfes verbergen kann, ohne daß seine Frau das mitbekäme?»
«Na und wenn schon?» Matthew zuckte
ungeduldig die Achseln. «Welche Frau verrät denn schon ihren Ehemann. Unter
Umständen deckt sie ihn ja nicht zum erstenmal.»
«Tja, vielleicht», sagte Mr. Pringle
bedrückt. «Möglicherweise bringt eine neue Autopsie ja auch neue Hinweise, vor
allem, wenn die Polizei unsere Annahme, daß es kein Selbstmord war, ernst
nimmt.»
«Die einzige Person mit zerrissenen
Kleidern, die mir an dem Abend begegnet ist, war Charlotte Fairchild», sagte
Matthew mit schiefem Lächeln. «Da hatte sie ihre Begegnung mit Gill hinter
sich. Aber sie wirst du ja wohl kaum verdächtigen, oder? Übrigens haben Liz’
treuhänderische Vermögensverwalter sich bei mir gemeldet und mich gebeten
vorbeizukommen. Würdest du mich begleiten? Ich könnte etwas moralische Unterstützung,
glaube ich, gut gebrauchen.»
Der wuchtige Büroturm wirkte mit seiner
Fassade aus dunkelgetöntem Glas abweisend und unpersönlich. Neben dem Portal
lieferte einzig ein dezentes Messingschild mit der Aufschrift «Hurst-Haus»
einen Hinweis auf den Erbauer. Das Innere des Gebäudes barg ein
lichtdurchflutetes, von tropischen Pflanzen üppig bewachsenes Atrium. Mr.
Pringle und Matthew wurden gebeten, dort einen Moment zu warten, und kamen sich
neben den zum Teil haushohen Bäumen wie Zwerge vor. Ein Plexiglasfahrstuhl in
Form einer Blase trug sie nach oben. Auf allen Etagen schien es von schicken
Yuppies nur so zu wimmeln, so daß sie ganz überrascht waren, als ihnen ganz
oben im Penthouse ein gehetzt aussehender Mann in nicht sehr elegantem
Tweedjackett gegenübertrat. Trotzdem war Mr. Pringle froh, daß er sich
entschlossen hatte, seinen Sonntagsanzug anzuziehen. Und noch erleichterter war
er darüber, daß man seinem Neffen keinerlei Schuld an Elizabeths Tod würde
anlasten können. Andernfalls wäre ihm bange um ihn geworden, denn sicher hätte
der Hurst-Konzern seine Macht und seinen Einfluß dazu benutzt, ihn der Schuld
zu überführen und zu vernichten.
Mr. Pringle war stummer Zuschauer, als
der Mann im Tweedjackett sowie zwei seiner Untergebenen Matthew ihr Beileid
aussprachen, und gab sich ansonsten seinem Staunen über Elizabeths
unvorstellbaren Reichtum
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