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Leichenblässe

Titel: Leichenblässe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon Beckett
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habe
     ich nichts geahnt?»
    Weil man nie mit so etwas rechnet
. Aber das sagte ich nicht.
    Sein Wortstrom stoppte abrupt. Ich starrte wie betäubt auf die Straße.
Lieber Gott, lass das nicht geschehen
. Aber es war bereits geschehen, und die stillen Wälder spendeten keinen Trost. In den durchbrochenen Sonnenstrahlen tanzten
     Insekten, die neben den riesigen uralten Eichen und Kiefern wie unbedeutende, winzige Flecken wirkten. Durch eine schmale
     Spalte im Berghang stürzte schäumend weißes Wasser über dunkle Felsen in die Tiefe. Wir fuhren an umgeknickten, mit Moos bedeckten
     Bäumen vorbei, während andere, die noch standen, von Kletterpflanzen umschlungen waren. So schön diese Wildnis auch war, alles,
     was hier draußen lebte, befand sich in einem ständigen Überlebenskampf.
    Der nicht immer gewonnen wurde.
    Ich bin mir nicht sicher, wann mir mein Unbehagen bewusst wurde. Es schien aus dem Nichts zu kommen und kündigte sich zuerst
     dadurch an, dass mir die Unterarme kribbelten. Als ich hinabschaute, sah ich, dass sich die Härchen aufgerichtet hatten. Ein
     ähnliches Kribbeln im Nacken sagte mir, dass sich auch dort die Haare aufgestellt hatten.
    Meine innere Unruhe wurde immer stärker und nahm bald beängstigende Ausmaße an. Ich umklammerte das Lenkrad.
Was? Was ist los?
Ich wusste es nicht. Paul saß noch immer beklemmend reglos und schweigend neben mir. Die Straße |352| vor mir war völlig leer und nur vom Sonnenlicht und dem Schatten der Bäume gesprenkelt. Ich schaute in den Rückspiegel. Nichts
     zu sehen. Hinter uns spulte sich der Wald mit gleichgültiger Monotonie ab. Doch das Gefühl ließ nicht nach. Als ich wieder
     einen Blick in den Spiegel warf, zuckte ich zusammen. Irgendetwas war gegen die Windschutzscheibe geknallt.
    Ein riesiges Insekt hing platt gedrückt mit abgespreizten Beinen und Flügeln an der Scheibe. Als ich darauf starrte, begann
     mir allmählich der Grund für meine Unruhe klar zu werden. Ohne weiter nachzudenken, trat ich auf die Bremse.
    Paul wurde gegen seinen Gurt geschleudert und stützte sich mit den Händen am Armaturenbrett ab. Während der Wagen quietschend
     zum Stehen kam, warf er mir einen erschrockenen Blick zu.
    «Mein Gott, David   …!» Er schaute sich um und versuchte herauszufinden, warum wir angehalten hatten. «Was ist los?»
    Ich antwortete nicht. Ich saß mit Herzrasen da, umklammerte das Lenkrad und starrte noch immer auf die Windschutzscheibe.
     Die Libelle war fast so lang wie mein Finger. Obwohl sie ziemlich stark zerfetzt war, konnte ich die Tigerstreifen auf dem
     Mittelleib erkennen. Die Augen waren unverkennbar, genau wie Josh Talbot gesagt hatte.
    Die blau leuchtenden Augen der
Epiaeschna heros
.
    Eine Sumpflibelle.

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    |353| KAPITEL 22
    Als ich den Rückwärtsgang einlegte, schaute mich Paul an, als wäre ich verrückt geworden.
    «Was ist los? Hast du was gesehen?»
    «Ich bin mir nicht ganz sicher.»
    Ich drehte mich auf dem Sitz um, damit ich durch das Heckfenster schauen konnte, fuhr die Straße zurück und suchte dabei den
     Wald auf meiner Seite ab. Talbot hatte gesagt, dass die Sumpflibellen feuchte, bewaldete Orte mochten. Und inmitten der umherschwirrenden
     Insekten hatte es zwischen den Bäumen blau gefunkelt. Allerdings war ich so abgelenkt gewesen, dass ich es nicht bemerkt hatte.
     Auf jeden Fall nicht bewusst.
Schau dir nur diese Augen an! Unglaublich oder?
An einem sonnigen Tag kann man sie aus einer Meile Entfernung
erkennen   …
    Er hatte recht gehabt.
    Ich hielt auf der Böschung neben der Straße an, ließ den Motor laufen und stieg aus. Als ich am Waldrand stehen blieb, hüllte
     mich die Stille der Natur ein. Sonnenstrahlen fielen durch die Zweige der Bäume auf die im Gras wachsenden Wildblumen.
    Sonst sah ich nichts.
    «David, jetzt sag mir endlich, was los ist, verdammt!»
    Paul stand vor der geöffneten Beifahrertür. Der bittere Geschmack der Enttäuschung lag mir auf der Zunge. «Das |354| Insekt auf der Windschutzscheibe ist eine Sumpflibelle. In Harpers Sarg haben wir eine Sumpflibellennymphe gefunden. Ich dachte   …»
    Ich verstummte verlegen.
Ich dachte, ich hätte noch mehr
davon gesehen.
Jetzt kam es mir an den Haaren herbeigezogen vor.
    «Entschuldige», sagte ich und wandte mich zum Wagen um.
    Und da sah ich ein blaues Schimmern zwischen dem Grün.
    «Dahinten.» Ich zeigte aufgeregt in den Wald. «Neben der umgestürzten Kiefer.»
    Die Libelle schwirrte durch die hereinfallenden

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