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Leichenblässe

Titel: Leichenblässe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon Beckett
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Sonnenstrahlen. Ihre blauen Augen leuchteten wie Neon. Als hätten sie nur
     auf diesen Moment gewartet, erkannte ich jetzt noch weitere Exemplare zwischen den Bäumen.
    «Ich sehe sie.» Paul starrte blinzelnd in den Wald, als würde er gerade aufwachen. «Glaubst du, das hat was zu bedeuten?»
    In seiner Stimme lag ein vorsichtiger, beinahe flehender Ton, aber ich wollte ihm auf keinen Fall falsche Hoffnungen machen.
     Sumpflibellen hin oder her, York hatte Noah Harpers Leiche bestimmt nicht so nah an der Straße abgelegt. Und selbst wenn,
     ich konnte mir nicht vorstellen, wie es Sam helfen sollte. Andererseits wussten wir, dass York mit dem Krankenwagen über diese
     Straße gefahren war, und nun entdeckten wir auch hier die Libellen. Das konnte nicht nur Zufall sein.
    Oder doch?
    «Talbot hat gesagt, sie mögen stehende Gewässer, oder?», sagte Paul mit einer aus der Verzweiflung geborenen Unruhe. «Hier
     muss es irgendwo einen Teich oder einen See geben. Hast du eine Karte im Wagen?»
    |355| «Nicht von den Bergen.»
    Er fuhr sich mit einer Hand durchs Haar. «Irgendetwas muss es hier geben! Vielleicht einen langsam fließenden Bach oder Fluss   …»
    Allmählich bereute ich, überhaupt etwas gesagt zu haben. Die Wildnis der Berge erstreckte sich über mehr als zweitausend Quadratmeilen.
     Soweit ich wusste, lebten die Libellen nomadisch, sie könnten also bereits meilenweit von dem Ort entfernt sein, an dem sie
     geschlüpft waren.
    Trotzdem   …
    Ich schaute mich um. Ein Stückchen die Straße hinab schien ein Weg abzuzweigen.
    «Wir können ja dort hinten reinfahren und uns umsehen», schlug ich vor.
    Paul nickte, offenbar entschlossen, selbst die geringste Hoffnung zu ergreifen. In mir kam erneut schlechtes Gewissen auf,
     denn wahrscheinlich klammerten wir uns nur an einen Strohhalm. Als er wieder in den Wagen stieg, nahm ich die tote Libelle
     von der Windschutzscheibe. Dann setzte ich mich hinters Steuer und schaltete die Scheibenwischer ein. Die Wasserstrahlen spülten
     ihre Reste vom Glas, als wäre sie nie dort gewesen.
    Die Abzweigung war nur ein holpriger Pfad, der sich durch die Bäume schlängelte. Da er nicht einmal mit Schotter befestigt
     war, konnte ich nur langsam über den zerfurchten, matschigen Boden fahren. Zweige und Büsche strichen gegen die Fenster. Das
     Gestrüpp wurde mit jedem Meter dichter, bis ich schließlich anhalten musste. Geradeaus war der Weg vollständig durch Ahornbäume
     und Birken blockiert, die mit struppigen Lorbeerbüschen um jeden Zentimeter Boden kämpften. Wohin auch immer der Weg einmal
     geführt haben mochte, wir kamen keinen Schritt weiter.
    |356| Paul schlug frustriert auf das Armaturenbrett. «Verfluchte Scheiße!»
    Er stieg aus dem Wagen. Als ich ihm folgen wollte, musste ich die Tür mit aller Kraft gegen die Büsche stemmen. Ich schaute
     mich um und hoffte, eine weitere Sumpflibelle zu erblicken oder irgendetwas anderes, damit ich wusste, dass wir nicht umsonst
     dort waren. Aber ich sah nur Wald und nichts als Wald.
    Paul starrte mit hängenden Schultern in das Dickicht. Die Hoffnung, die ihn für eine Weile angetrieben hatte, hatte sich erschöpft.
    «Es ist sinnlos», sagte er mit zerfurchtem Gesicht. «Wir sind meilenweit von der Stelle entfernt, wo York den Krankenwagen
     stehengelassen hat. Scheiße, wir sind fast wieder dort, wo er den Unfall hatte. Wir verschwenden unsere Zeit.»
    In dem Moment hätte ich beinahe aufgegeben. Wäre beinahe wieder ins Auto gestiegen und hätte mir gesagt, dass ich überreagiert
     hatte. Doch dann erinnerte ich mich an Toms Worte:
Du hast immer gute Instinkte gehabt, David. Du solltest
lernen, ihnen mehr zu vertrauen.
    Trotz all meiner Zweifel sagten mir meine Instinkte immer noch, dass dort etwas war.
    «Nur noch einen Augenblick.»
    Die Zweige über mir raschelten in einer Brise, dann wurde es wieder still. Ich ging zu einem umgestürzten, morschen Baumstamm,
     der mit hellen, tellergroßen Pilzen besetzt war, und kletterte hinauf. Doch die erhöhte Position half mir auch nicht weiter.
     Abgesehen von dem überwucherten Weg, dem wir gefolgt waren, konnte ich nur Bäume sehen. Ich wollte gerade hinabsteigen, als
     die Zweige wieder raschelten, weil erneut eine Brise aufgekommen war.
    |357| Und dann roch ich es.
    Den leichten, fast süßlichen Verwesungsgeruch.
    Ich hielt meine Nase in die Brise. «Kannst du   …?»
    «Ich rieche es.»
    Seine Stimme klang angespannt. Es war ein Geruch, mit dem wir beide

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