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Leichenblässe

Titel: Leichenblässe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon Beckett
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zurückschnellenden Zweigen ab.
    Als ich dann aus dem Gebüsch trat, wäre ich fast mit ihm zusammengestoßen.
    Wir waren in einem großen Garten herausgekommen. |360| Jedenfalls schien es einmal ein Garten gewesen zu sein; jetzt war es eine Wildnis. Zierbüsche und Bäume wucherten wild durcheinander.
     Wir standen im Schatten einer riesigen Magnolie, deren wächserne weiße Blüten einen widerlich süßen Geruch verströmten. Direkt
     vor uns ragte ein alter Goldregen auf, dessen Äste sich unter unzähligen gelben Trauben bogen.
    Darunter war ein Teich.
    Er war wohl einmal das Herz des Gartens gewesen, jedoch schon lange abgestanden und verwildert. Die Ränder waren langsam ausgetrocknet
     und mit Schilf überwuchert, während das zähflüssige grüne Wasser mit Schaum überzogen war. Über der Oberfläche schwirrte ein
     Schwarm mückenartiger Insekten wie Staubkörner im Sonnenlicht.
    Die Nahrung der Libellen.
    Es waren Dutzende. Hunderte. Das Brummen ihrer Flügel erfüllte die Luft. Hier und da sah ich die schillernden Farben anderer,
     kleinerer Arten, aber es war die getigerte Sumpflibelle, die vorherrschte. Ihre Augen schimmerten wie Saphire, während sie
     in einem wirren Ballett über dem Wasser tanzten.
    Als ich ein Stück zur Seite trat, um einen besseren Blick zu haben, knackte etwas unter meinem Fuß. Ich schaute hinab und
     sah einen blassen, grünlich weißen Stock im Gras liegen. Nein, zwei Stöcke, dachte ich. Und dann, als würde ein Bild scharf
     werden, wurde mir klar, dass ich auf Elle und Speiche eines menschlichen Unterarms schaute.
    Ich ging langsam einen Schritt zurück. Neben meinem Fuß lag, halb im Unterholz verborgen, eine Leiche. Sie war vollständig
     skelettiert, und durch das Moos, das die Knochen bedeckte, spross bereits frisches Frühlingsgras.
    Schwarz, weiblich, jugendlich:
Die Einschätzung kam |361| automatisch. Als hätte er nur auf diesen Moment gewartet, machte sich über dem süßlichen Geruch der Magnolie jetzt auch wieder
     der Gestank der Verwesung bemerkbar.
    «O mein Gott», flüsterte Paul neben mir.
    Ich schaute langsam auf. Die Libellen waren nicht die einzigen Bewohner dieses Ortes.
    Der Garten war voller Leichen.
    Sie lagen im Gras, unter Bäumen, im Unterholz. Größtenteils bestanden sie nur aus nackten Knochen, einige befanden sich aber
     noch im Prozess der Verwesung, sodass sich Fliegen und Maden an den ledernen Eingeweiden und Knorpeln labten. Kein Wunder,
     dass keines von Yorks früheren Opfern gefunden worden war.
    Er hatte sich seine eigene Body Farm erschaffen.
    «Dahinten», sagte Paul bebend. «Ein Haus.»
    Jenseits des Teiches führte das Grundstück einen bewaldeten Berghang hinauf. Kurz vor der Kuppe konnte man durch die Äste
     ein Dach erkennen. Als Paul losgehen wollte, hielt ich ihn fest.
    «Was hast du vor?»
    Er riss sich los. «Sam könnte in dem Haus sein!»
    «Ich weiß, aber wir müssen Gardner sagen   …»
    «Dann mach’s doch», sagte er und lief los.
    Ich fluchte und schaute unschlüssig auf mein Telefon. Einerseits musste ich Gardner Bescheid sagen, was wir hier entdeckt
     hatten, andererseits musste ich Paul davon abhalten, eine Dummheit zu begehen.
    Ich steckte das Telefon weg und lief hinter ihm her.
    Überall lagen Leichen. Man konnte weder einen Plan noch einen Sinn dahinter erkennen, so als hätte York sie hier einfach der
     Verwesung überlassen. Während ich durch den Garten lief, sah ich überall Libellen umherschwirren. Eine |362| Sumpflibelle ließ sich mit schwingenden Flügeln auf einem skelettierten Finger nieder. Als mir eine andere vor dem Kopf herumbrummte,
     scheuchte ich sie voller Abscheu weg.
    Paul war noch immer vor mir und näherte sich dem Haus, das wir durch die Äste gesehen hatten. Am Hang gebaut, erhob sich das
     dreistöckige Holzhaus wie eine Klippe. Für ein einfaches Wohnhaus war es viel zu groß, es wirkte eher wie ein altes Hotel.
     Früher musste es einmal ein imposantes Gebäude gewesen sein, doch nun sah es so vermodert aus wie die Leichen auf dem Grundstück.
     Anscheinend hatten sich die Fundamente verschoben, denn es machte einen windschiefen und verzogenen Eindruck. Das Schindeldach
     war löchrig, und die mit Spinnweben überzogenen Fenster starrten blind aus der verwitterten grauen Fassade. Wie ein Betrunkener
     lehnte an einer Ecke eine alte Trauerweide, deren Zweige vor den Außenwänden hingen, als wollten sie den Verfall verbergen.
    Paul hatte eine mit Unkraut überwucherte Veranda

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