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Leichenblässe

Titel: Leichenblässe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon Beckett
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erreicht, die eine ganze Seite des Gebäudes einnahm. Ich war mittlerweile
     dicht hinter ihm, allerdings nicht nah genug, um ihn daran zu hindern, auf die mit Brettern vernagelten Verandatüren zuzulaufen
     und an den Griffen zu zerren. Sie ließen sich nicht öffnen, aber das Geklapper erschütterte die Stille des Gartens.
    Ich zog ihn von der Tür weg. «Was machst du denn da? Mein Gott, willst du dich umbringen lassen?»
    Ein Blick in sein Gesicht verriet mir die Antwort: Er rechnete nicht mehr damit, Sam lebendig zu finden. Und wenn sie tot
     war, war es ihm egal, was mit ihm geschah.
    Er schob mich zur Seite und lief auf die Ecke des Hauses zu, wo die alte Trauerweide gegen die Wand lehnte. Ich durfte ihn
     nicht zu weit vorauslaufen lassen, aber ich wollte auch endlich Gardner anrufen. Ich wählte die Nummer im Laufen |363| und sah mit Erleichterung, dass es hier draußen wenigstens einen schwachen Empfang gab. Das war mehr, als ich zu hoffen gewagt
     hatte, doch als sich sofort die Mailbox des TB I-Agenten meldete, fluchte ich. Um es bei Jacobsen zu versuchen, fehlte die Zeit. Paul war bereits unter den herabhängenden Zweigen
     der Trauerweide verschwunden. Atemlos beschrieb ich, so gut ich konnte, wo wir waren, klappte dann das Handy zu und rannte
     hinter ihm her.
    Aus der Nähe war der Verfall des Gebäudes unverkennbar. Die Holzwände waren morsch und mit winzigen Löchern übersät. Ich musste
     an den Schwarm der kleinen Insekten denken, die von den Libellen gefressen worden waren, und erinnerte mich an Josh Talbots
     Worte:
Die Sumpflibelle hat
eine Vorliebe für geflügelte Termiten.
    Hier hatten sie unerschöpflichen Vorrat gefunden.
    Aber im Augenblick hatte ich andere Sorgen. Ich konnte Paul wieder vor mir sehen; er lief über einen überwucherten Pfad am
     Gebäude entlang. Mit Stichen in der Brust sprintete ich los und zog ihn zurück, ehe er um die Ecke verschwinden konnte.
    «Lass mich!»
    Er fuchtelte mit den Armen herum und traf mich mit dem Ellbogen an der Schläfe. Für einen kurzen Moment sah ich Sterne vor
     den Augen, aber ich ließ ihn nicht los. «Denk doch mal nach! Was ist, wenn er eine Waffe hat?»
    Er versuchte mich abzuschütteln. «Ist mir scheißegal!»
    Ich musste alle Kraft aufbieten, um ihn festzuhalten. «Wenn Sam noch lebt, sind wir ihre einzige Chance! Willst du die vermasseln?»
    Das wirkte. Die Glut in seinen Augen erlosch, und ich spürte, wie sein Widerstand abnahm. Noch etwas misstrauisch, ließ ich
     ihn los.
    |364| «Ich werde nicht warten, bis Gardner hier ist», sagte er schnaufend.
    «Ich weiß, aber wir können nicht einfach so reinstürmen. Wenn York da ist, dürfen wir es ihm nicht noch leichter machen.»
    Ich konnte sehen, dass alles in ihm das Haus einreißen wollte, bis er Sam gefunden hatte, doch er wusste, dass ich recht hatte.
     Obwohl uns York mittlerweile gehört haben musste, hatte er vielleicht noch nicht bemerkt, dass wir nur zu zweit waren. Das
     verschaffte uns zwar kaum einen Vorteil, aber wenn wir unser Kommen auch noch lauthals ankündigten, würden wir völlig im Hintertreffen
     sein.
    Mit etwas mehr Vorsicht gingen wir zum Ende des Pfades.
    Wir hatten uns dem Haus offenbar von hinten genähert und gelangten nun zur Vorderseite. Die Sonne stand zu niedrig, um über
     das hohe Dach zu strahlen, sodass die Fassade einen langen Schatten warf. Als wir in die Finsternis traten, war mir, als würden
     wir in kaltes Wasser steigen. Auch die Bäume auf dieser Seite wirkten dunkler. Anstatt der vielfältigen Zierpflanzen im Garten
     standen hier vor allem hoch aufragende Kiefern und Ahornbäume. Der Wald hatte sich das gesamte Grundstück zurückerobert. Über
     der matschigen Auffahrt bildeten die Baumkronen einen düsteren, klaustrophobischen Tunnel, der sich im Nirgendwo verlor.
    An einer Seite der Auffahrt stand ein verzogenes Holzschild. Die Buchstaben waren zu einem gespenstischen Blau verblichen,
     das auf einen lange vergangenen Optimismus hindeutete:
Tief einatmen! Sie sind im Cedar Heights Kurbad
und Sanatorium!
Dem Aussehen nach schien es aus den 1950er Jahren zu stammen, und dem Verfall nach zu urteilen, war es seitdem vergessen worden.
    |365| Außer von York.
    Auf der Auffahrt waren kreuz und quer mehrere Autos abgestellt worden, die wahrscheinlich Yorks Opfern gehört hatten. Die
     meisten waren mit verschimmeltem Laub und Vogeldreck bedeckt und offensichtlich seit Ewigkeiten nicht bewegt worden, doch
     zwei waren sauberer als der Rest.

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