Leichenblässe
anfangen, mich zu verhätscheln», entgegnete er gereizt. «Ich nehme Medikamente, alles ist unter Kontrolle.»
Ich glaubte ihm nicht, aber ich wusste, wann man den Mund halten sollte. Eine Weile fuhren wir schweigend weiter, im Bewusstsein
der Dinge, die ungesagt geblieben waren. Im Inneren des Kombis wurde es hell. Hinter uns kam ein anderer Wagen auf der Straße
heran, dessen Scheinwerfer äußerst grell leuchteten.
«Was hältst du davon, wenn du mir bei der Untersuchung morgen zur Hand gehst?», fragte Tom.
Die Leiche sollte ins Leichenschauhaus der Uniklinik in Knoxville gebracht werden. Das Institut für Forensische Anthropologie
besaß eigene Laboreinrichtungen, die sich bizarrerweise unter dem Football-Stadion von Knoxville befanden, aber sie wurden
eher und öfter für die Forschung als für Mordermittlungen benutzt. Und da die Labore des TBI in Nashville waren, war das Leichenschauhaus
der Uni in diesem Fall die beste Lösung. Normalerweise hätte ich mich über die Gelegenheit, Tom zu helfen, gefreut, doch jetzt
zögerte ich.
«Ich bin mir nicht sicher, ob ich dir eine große Hilfe sein kann.»
«Unsinn», erwiderte Tom ungewöhnlich barsch. Er seufzte |57| auf. «Hör zu, David, du hast eine schwere Zeit gehabt, das weiß ich. Aber du bist hier, um wieder auf die Beine zu kommen,
und ich kann mir keine bessere Möglichkeit vorstellen, um das zu schaffen.»
«Was ist mit Gardner?», wandte ich ein.
«Dan ist manchmal ein bisschen reizbar bei Leuten, die er nicht kennt, aber genau wie jeder andere weiß er Fachwissen zu schätzen.
Außerdem muss ich ihn nicht um Erlaubnis bitten, wenn mir jemand hilft. Normalerweise frage ich einen meiner Studenten, aber
ich hätte lieber dich dabei. Es sei denn, du
willst
nicht mit mir arbeiten …»
Ich wusste nicht, was ich wollte, aber ich konnte ihn kaum vor den Kopf stoßen. «Wenn du dir sicher bist, dann danke.»
Zufrieden richtete er seine Aufmerksamkeit wieder vollständig auf die Straße. Plötzlich wurde das Innere des Wagens von Licht
durchflutet. Der Wagen hinter uns war dicht aufgefahren. Tom kniff die Augen zusammen, da ihn die Scheinwerfer im Rückspiegel
blendeten. Sie waren nur wenige Meter von unserem Heck entfernt und so hoch und grell, dass sie nur von einem Pick-up oder
einem kleinen Lastwagen stammen konnten.
Tom schnalzte verärgert mit der Zunge. «Was macht denn der Idiot da?»
Tom wurde langsamer und fuhr an den Straßenrand, damit der andere Wagen überholen konnte. Doch der wurde auch langsamer und
blieb hinter uns.
«Na schön, du hast deine Chance gehabt», brummte Tom und beschleunigte wieder.
Der Wagen folgte uns im gleichen Abstand wie zuvor. Ich drehte mich um und wollte sehen, wer hinter uns war. Doch im Licht
der grellen Scheinwerfer konnte ich nichts erkennen.
|58| Dann schwenkte der Wagen mit quietschenden Reifen abrupt auf die andere Straßenseite. Als ich hinüberschaute, sah ich für
einen kurzen Augenblick einen hohen Pick-up mit verspiegelten Fenstern, der uns mit heiser dröhnendem Motor überholte. Toms
Kombi wurde durchgeschüttelt, dann war der andere Wagen verschwunden, und seine Rücklichter verloren sich schnell in der Dunkelheit.
«Verfluchter Prolet», brummte Tom.
Er schaltete den C D-Player ein, und die sanften Töne Chet Bakers begleiteten uns zurück in die Zivilisation.
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|59| KAPITEL 4
Tom ließ mich am Krankenhaus raus, wo ich meinen Wagen stehengelassen hatte. Wir verabredeten uns für den nächsten Morgen
im Leichenschauhaus, und nachdem er weg war, fuhr ich dankbar zu meinem Hotel. Ich wollte nur noch duschen, etwas essen und
dann versuchen zu schlafen.
Was ziemlich genau das war, was ich bisher jeden Abend getan hatte.
Auf dem Weg hinauf in mein Zimmer fiel mir ein, dass ich mich darauf eingelassen hatte, heute Abend auszugehen. Ich schaute
auf die Uhr und sah, dass ich kaum noch eine halbe Stunde Zeit hatte, bis Paul mich abholen wollte.
Stöhnend sank ich aufs Bett. Ich hatte weniger Lust auf Gesellschaft denn je. Ich war es nicht mehr gewöhnt, unter Menschen
zu sein, und war erst recht nicht in der Stimmung, mit Fremden höfliche Gespräche zu führen. Ich war kurz davor, Paul anzurufen
und irgendeine Ausrede zu erfinden, nur fiel mir keine ein. Außerdem wäre es unfreundlich gewesen, seine Gastfreundschaft
zurückzuweisen.
Komm schon, Hunter, gib dir Mühe. Gott hat dir nicht
verboten, dich zu amüsieren.
Widerwillig
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