Leichenblässe
stemmte ich mich vom Bett. Wenn ich mich beeilte, reichte die Zeit gerade noch für eine Dusche, also zog ich mich
aus, stieg in die Zelle und stellte die Brause an. Die Narbe auf meinem Bauch sah so fremd aus, als wäre sie kein Teil von
mir. Obwohl die hässliche |60| Linie aus rosarotem Fleisch nicht mehr empfindlich war, berührte ich sie nur ungern. Mit der Zeit würde ich mich vermutlich
daran gewöhnen, aber noch war ich nicht so weit.
Ich ließ mir das heiße Wasser aufs Gesicht strömen und atmete tief die dampfende Luft ein, um die Erinnerungen zu zerstreuen,
die mir plötzlich durch den Kopf geisterten.
Das
Messer ragt unterhalb der Rippen aus meinem Bauch, klebriges
Blut sammelt sich um mich herum auf den schwarzweißen
Fliesen …
Ich schüttelte mich wie ein Hund und versuchte, die ungewollten Bilder loszuwerden. Ich hatte Glück gehabt. Grace Strachan
war eine der schönsten Frauen, die ich jemals kennengelernt hatte. Außerdem war sie die gefährlichste und verantwortlich für
den Tod von mindestens einem halben Dutzend Menschen. Wenn Jenny mich nicht rechtzeitig gefunden hätte, hätte ich diese Liste
verlängert. Und obwohl ich wusste, dass ich mich glücklich schätzen sollte, am Leben zu sein, fiel es mir schwer, darüber
hinwegzukommen.
Besonders, weil Grace noch immer frei herumlief.
Die Polizei hatte mir versichert, dass es nur eine Frage der Zeit sein würde, bis sie gefunden wurde, und dass sie zu labil
sei, um lange auf sich allein gestellt zu bleiben. Aber Grace war eine wohlhabende Frau gewesen, verzehrt von einer Rachsucht,
die so unverständlich wie tödlich war. Sie würde sich nicht so einfach verraten. Zudem hatte sie es nicht nur auf mich abgesehen.
Sie hatte bereits einmal versucht, eine junge Mutter und deren Tochter zu töten, und war nur auf Kosten eines anderen Lebens
davon abgehalten worden. Seit Grace’ Attacke auf mich lebten Ellen und Anna McLeod unter Polizeischutz und einem anderen Namen.
Obwohl die beiden schwerer aufzuspüren waren als ein forensischer Anthropologe, der im Telefonbuch stand, würde niemand von
uns sicher sein, solange man Grace nicht gefasst hatte.
|61| Mit dieser Angst zu leben war nicht leicht. Besonders mit meinen Narben, die mich ständig daran erinnerten, wie nah Grace
ihrem Ziel schon einmal gekommen war.
Ich stellte die Dusche so heiß, wie ich es ertragen konnte, und ließ das brühheiße Wasser die düsteren Gedanken verscheuchen.
Tropfend nass trocknete ich mich ab, bis meine Haut kribbelte, zog mich an und eilte hinunter. Obwohl mir die heiße Dusche
gutgetan hatte, war ich noch immer nicht in Ausgehstimmung, als ich ins Hotelfoyer ging. Paul wartete bereits, er saß auf
einem Sofa und schrieb konzentriert in ein kleines Notizbuch.
«Entschuldige, wartest du schon lange?», fragte ich.
Er stand auf und steckte das Notizbuch in seine Gesäßtasche. «Bin gerade erst gekommen. Sam wartet im Wagen.»
Er hatte auf der anderen Straßenseite geparkt. Auf dem Beifahrersitz saß eine hübsche Frau Anfang dreißig. Sie hatte langes,
sehr blondes Haar und drehte sich zu mir um, als ich mich auf die Rückbank setzte. Ihre Hände lagen auf ihrem schwangeren
Bauch.
«Hey, David, schön, dich wiederzusehen.»
«Es freut mich auch», sagte ich. Es gibt ein paar Menschen, in deren Gegenwart man sich sofort wohl fühlt, und Sam war einer
davon. Wir waren einander nur ein paarmal begegnet, aber es kam mir schon so vor, als würde ich sie seit Jahren kennen. «Wie
geht es dir?»
«Mmmh, mir tut der Rücken weh, die Füße schmerzen, und von dem Rest willst du lieber nichts wissen. Aber ansonsten kann ich
mich nicht beschweren.» Sie lächelte, um zu zeigen, dass sie es nicht so gemeint hatte. Sam war eine der glücklichen Frauen,
denen die Schwangerschaft gut stand. Sie strahlte geradezu vor Gesundheit, und trotz aller Unannehmlichkeiten genoss sie offenbar
jeden Augenblick.
|62| «Das Baby spielt in letzter Zeit ziemlich verrückt», sagte Paul, als er losfuhr. «Ich erkläre Sam die ganze Zeit, dass das
ein sicheres Zeichen dafür ist, dass es ein Mädchen wird, aber sie hört nicht auf mich.»
Keiner von beiden hatte etwas über das Geschlecht des Babys wissen wollen. Sam hatte mir gesagt, dass es die Überraschung
verderben würde. «Mädchen sind nicht so stürmisch. Es ist ein Junge.»
«Eine Kiste Bier, dass du dich täuschst.»
«Eine Kiste Bier? Das ist alles?» Sie wandte sich an
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