Leichendieb
Geschäftsführer arbeitete, war er erschienen. Wir sind ratlos, hatten die Verkäuferinnen zu meiner Mutter gesagt. Wir wissen nicht, was wir mit den Bestellungen machen sollen. Mit den Zahlungen. Wo ist die Steuerbescheinigung? Er ist nur mit dem weggegangen, was er auf dem Leib trug, wiederholten wir. Als ob das ein Beweis dafür gewesen wäre, dass wir nichts mit seinem Verschwinden zu tun hatten. Und nachts im Bett schluchzte meine Mutter an mich geklammert und murmelte, irgendetwas Schreckliches sei Papa zugestoßen, etwas ganz Schlimmes, sagte sie, das erfüllte mich mit Angst, ich malte mir etwas so Furchtbares aus, dass ich es mir nicht einmal bildlich vorstellen konnte, nicht wie ein Feuer oder eine Schießerei, es war schlimmer, es war die Essenz des Bösen, ohne feste Form, unerbittlich wie ein Sturz in den Abgrund. Wenn er am Leben wäre, sagte sie, würde er mich anrufen. Aber Tatsache ist, dass mein Vater nie anrief. Wir haben nie erfahren, ob er gestorben war, ob er ermordet, überfahren und mittellos begraben wurde, oder ob er mit einer anderen Frau durchgebrannt war.
Ich erzählte auch von den regelmäßigen Besuchen in Krankenhäusern und Polizeiwachen, den falschen Spuren, den vergeblichen Reisen, von unserer endlosen Warterei, die erst an dem Tag vorüber war, als meine Mutter starb. Zusammen mit meiner Mutter habe ich auch meinen Vater beerdigt. Im selbenGrab. Es war notwendig, meinen Vater zu beerdigen, sagte ich. Das war sehr wichtig. Das Begräbnis. Ohne eine zumindest symbolische Beerdigung wäre ich nicht imstande gewesen weiterzuleben.
Sie hatte die Augen geschlossen, schien nicht zuzuhören, ich sprach noch eine Zeit lang, bis ich die Tränen bemerkte, die ihr das Gesicht herunterrannen und auf das Kopfkissen tropften.
Die Krankenschwester kam herein, um ihr eine Spritze zu geben, und ich fragte sie, ob ich lieber hinausgehen sollte. Sie antwortete nicht. Sie hielt meine Hand fest, nicht sehr, aber sie hielt sie fest. Ich wartete, bis sie die Medikamente eingenommen hatte und ließ sie erst allein, als ich sah, dass sie eingeschlafen war.
Später kam Daniela zu Besuch, brachte Blumen und Schokolade mit. Sie schläft gerade, sagte ich. Daniela setzte sich neben mich, enge Hosen, Haare bis zur Taille. Sie strahlte Reichtum aus, diese Daniela. Der Reichtum drang ihr aus den Poren und glänzte vor meiner Nase wie Glitzerstaub.
Ich habe die Hoffnung aufgegeben, sagte sie.
Worauf?
Júnior ist tot. Wir werden ihn nicht mehr finden.
Und warum kommen Sie dann her?
Wie bitte?
Warum nerven Sie Dona Lu?
Ich hatte ohne nachzudenken geredet, aber wo ich es nun schon einmal gesagt hatte, fuhr ich fort und fragte, warum sie Dona Lu weiter besuche und sie quäle, warum sie sich nicht um ihr eigenes Leben kümmere, sich einen Freund suche, nach Europa reise, das wäre für alle besser, sagte ich. Lassen Sie Dona Lu in Ruhe.
Daniela fing an zu weinen.
Aber ich nahm darauf keine Rücksicht.
Ich gehe einen Kaffee trinken, sagte ich, wenn Sie weg wollen, warten Sie, bis die Krankenschwester oder jemand von der Familie kommt.
Während ich einen Espresso trank, dachte ich darüber nach, wie viele Todkranke dort lagen. Viele würden nicht nach Hause zurückkehren. Es war lediglich eine Frage der Zeit. Von dort würden sie direkt auf den Friedhof kommen. Wenn ich wenigstens eine Leiche auftreiben könnte, Over, würde ich mit meinem Plan vorankommen.
Nichts dergleichen werde ich tun, dachte ich. Oh doch, Over. Nichts. Kommt gar nicht in Frage. Niemals. Nicht mit Dona Lu. Ich mache so was nicht. Mein ganzes Leben lang hatte ich mich wie aus ganz gewöhnlichem Holz geschnitzt gefühlt, wie einer, der von seinem Vater verlassen worden war, aber das, so dachte ich, war etwas ganz anderes, als schlecht zu sein. Ich bin nicht pervers. Bin kein Vergewaltiger, Alkoholiker. Psychopath. Entführer. Dieb. Ich habe nicht den Mut, bestimmte Dinge zu tun. Entführen. Alles hat seine Grenzen. Vergewaltigen. Was das Gute angeht, dachte ich, bin ich, wenn schon nicht neutral, dann doch wenigstens unauffällig. Was, moralisch gesehen, schon hervorragend ist. Null ist besser als negativ. Minus fünf, minus zehn. Auf der Skala des Bösen. Vor allem in der Welt von heute. Die voller Schlechtigkeit ist. Ich sollte zu jener Gruppe gehören, die, falls es tatsächlich ein Jüngstes Gericht gibt, weder das Paradies noch die Hölle verdient hat. Ein Typ, der keinem wehtut.
Und was war mit Sulamita? Sulamita könnte mir
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