Leichenraub
Suche nach dem West End Reaper hat sich eine höchst schockierende Wendung ereignet. Am Sonntagmittag um ein
Uhr entdeckten zwei Knaben, die am Ufer des Charles River spielten, unter der West Boston Bridge die Leiche eines Mannes. Die offizielle Untersuchung ergab, dass es sich bei dem Toten um niemand anderen als Dr. Nathaniel Berry handelt, der als Assistenzarzt im Krankenhaus gearbeitet hatte und seit Beginn dieses Monats verschwunden war. Eine grässliche Bauchwunde, die ihm ohne Zweifel vorsätzlich beigebracht wurde, gilt als Beweis dafür, dass kein Selbstmord vorliegt.
Im Zusammenhang mit den Morden an zwei Krankenschwestern, die im gleichen Haus wie er gearbeitet hatten, war eine umfangreiche Fahndung nach Dr. Berry von Maine bis nach Georgia eingeleitet worden. Die schiere Brutalität der Mordtaten hat in der ganzen Region Angst und Schrecken ausgelöst, und das plötzliche Verschwinden des Arztes war von Constable Lyons von der Nachtwache als überzeugendes Indiz für Dr. Berrys Schuld interpretiert worden. Dessen Tod lässt nun die beunruhigende Vermutung aufkommen, dass der West End Reaper noch auf freiem Fuß sein dürfte.
Der Verfasser dieser Zeilen hat aus zuverlässiger Quelle erfahren, dass derzeit gegen einen anderen Verdächtigen ermittelt wird, der als junger Mann mit Kenntnissen in der Chirurgie wie auch im Schlachterhandwerk beschrieben wird. Der Betreffende hat zudem seine Wohnung im West End. Gerüchte, wonach er zurzeit als Student am Boston Medical College eingeschrieben sei, konnten nicht bestätigt werden.
Vom Gentleman zum Aussätzigen in einem einzigen Tag, dachte Norris, als er die Titelseite des Daily Advertiser vor sich über die Straße flattern sah. Gab es irgendjemanden in Bostons besseren Kreisen, der nicht diesen vernichtenden Artikel gelesen hatte? Irgendjemanden, der nicht erraten konnte, wer sich hinter dem »jungen Mann mit Kenntnissen in der Chirurgie wie auch im Schlachterhandwerk« verbarg? Als er an diesem Morgen zur Vorlesung in den Hörsaal gekommen war, hatte er die betroffenen Blicke bemerkt und gehört, wie
die Kommilitonen erschrocken nach Luft geschnappt hatten. Niemand hatte offen seine Teilnahme an der Veranstaltung in Frage gestellt. Wie auch, da er ja noch nicht offiziell irgendeines Verbrechens beschuldigt worden war? Nein, ein Gentleman sprach nie direkt über einen Skandal, nur in geflüsterten Andeutungen, und die musste Norris nun über sich ergehen lassen. Doch so oder so würden seine Qualen bald ein Ende haben. Nach den Weihnachtsferien würden Dr. Grenville und der Vorstand ihre Entscheidung bekannt geben, und Norris würde wissen, ob er weiter am College würde studieren können.
Vorerst blieb ihm nichts anderes übrig, als sich in der Park Street herumzudrücken und dem einen Mann nachzuspionieren, der möglicherweise die Identität des Mörders kannte.
Zusammen mit Rose hatte er das Haus den ganzen Nachmittag beobachtet, und schon raubte das schwindende Licht dem Tag den letzten Rest an Farbe und ließ nur trübes Grau in Grau zurück. Sie standen direkt gegenüber von Nummer fünf, einem in einer Reihe von acht imposanten Häusern mit Blick auf die kahlen Bäume des schneebedeckten Parks. Bis jetzt hatten sie weder Mr. Gareth Wilson noch irgendwelche Besucher entdecken können. Wendells Erkundigungen über den Mann hatten kaum Informationen zutage gefördert, bis auf die, dass er erst kürzlich aus London zurückgekehrt sei und dass sein Haus in der Park Street die meiste Zeit des Jahres leer stehe.
Wer ist Ihr Auftraggeber, Mr. Wilson? Wer hat Sie dafür bezahlt, ein Baby zu finden und einem armen, verlassenen Mädchen Angst einzujagen?
Die Tür von Nummer fünf wurde plötzlich geöffnet.
»Das ist er!«, flüsterte Rose. »Das ist Gareth Wilson.«
Der Mann war warm angezogen, mit einer schwarzen Biberfellmütze und einem voluminösen Mantel. Er blieb vor seiner Haustür stehen, um in ein Paar schwarze Handschuhe zu schlüpfen, und marschierte dann zügigen Schritts die Park Street hinauf in Richtung State House.
Norris’ Blick folgte dem Mann. »Mal sehen, wohin er geht.«
Sie ließen Wilson bis zum Ende der Häuserreihe laufen, ehe sie sich an seine Verfolgung machten. Am State House wandte Wilson sich nach Westen und tauchte in das Gewirr von Straßen ein, die sich den Beacon Hill hinaufzogen.
Norris und Rose folgten ihm, vorbei an herrschaftlichen Backsteinhäusern und winterkahlen Linden. Es war ruhig hier, zu ruhig, und
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