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Leichenraub

Leichenraub

Titel: Leichenraub Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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nur dann und wann klapperte eine Kutsche vorüber. Nichts deutete darauf hin, dass der Mann seine Verfolger bemerkt hatte. Er schlenderte jetzt gemächlicher dahin, während er die noblen Residenzen in der Chestnut Street hinter sich ließ und seine Schritte in eine bescheidenere Gegend lenkte, in die ein Gentleman mit einer Adresse in der Park Street sich normalerweise nicht verirren würde.
    Als Wilson unvermittelt in die enge Acorn Street einbog, fragte Norris sich, ob der Mann plötzlich gemerkt hatte, dass ihm jemand folgte. Was konnte er sonst in dieser kleinen Gasse verloren haben, wo nur einfache Kutscher und Bedienstete wohnten?
    Im schwachen Licht der Abenddämmerung war Wilson fast unsichtbar, als er die düstere Passage entlangging. Er blieb an einer Tür stehen und klopfte. Einen Augenblick später wurde sie geöffnet, und sie hörten einen Mann sagen: »Mr. Wilson! Welche Freude, Sie nach so vielen Monaten wieder in Boston zu sehen!«
    »Sind die anderen schon da?«
    »Nicht alle, aber die anderen kommen noch. Diese fürchterliche Geschichte bereitet uns allen große Sorgen.«
    Wilson betrat das Haus, und die Tür fiel hinter ihm ins Schloss.
    Es war Rose, die nun die Initiative ergriff. Unerschrocken schritt sie die Gasse hinauf, als ob sie dort zu Hause wäre. Norris folgte ihr bis zu der Tür, und sie blickten beide zum Haus auf. Es war weder auffällig noch besonders prächtig, nur eines in einer Reihe anonymer Backsteinhäuser. Über dem
Eingang befand sich ein massiver Türsturz, und im schwindenden Licht konnte Norris mit Mühe die Symbole ausmachen, die in den Stein gemeißelt waren.
    »Da kommt noch jemand«, flüsterte Rose. Rasch hängte sie sich bei ihm ein, und sie gingen davon, aneinandergeschmiegt wie ein Liebespaar, mit dem Rücken zu dem Mann, der soeben hinter ihnen in die Gasse eingebogen war. Sie hörten ein Klopfen an der Tür.
    Dieselbe Stimme, die Gareth Wilson begrüßt hatte, war nun zu vernehmen: »Wir haben uns schon gefragt, ob Sie es schaffen würden.«
    »Ich entschuldige mich für den Zustand meiner Kleidung, aber ich komme direkt vom Krankenbett eines Patienten.«
    Norris blieb stehen, zu schockiert, um auch nur einen Schritt weiterzugehen. Langsam blickte er sich um. Obwohl er das Gesicht des Mannes im Halbdunkel nicht sehen konnte, war ihm die Silhouette wohlvertraut – die breiten Schultern, die den weit geschnittenen Mantel ausfüllten. Auch nachdem der Mann das Haus betreten und die Tür sich hinter ihm geschlossen hatte, blieb Norris wie angewurzelt stehen. Es kann nicht sein.
    »Norris?« Rose zupfte ihn am Ärmel. »Was ist denn?«
    Er starrte die Gasse hinauf zu der Tür, durch die der Neuankömmling eben eingetreten war. »Ich kenne diesen Mann«, sagte er.
     
    Der einfältige Billy – ein passender Name für den Jungen, der da die Gasse hinunterschlurft, die Schultern hochgezogen, den Hals vorgereckt wie ein Storch, den Blick starr auf den Boden gerichtet, als suche er irgendeinen verlorenen Schatz. Einen Penny vielleicht oder ein weggeworfenes Stück Blech, Dinge, die niemand sonst eines zweiten Blickes würdigt. Aber Billy Piggott ist anders als die anderen, das hat Jack Burke jedenfalls gesagt. Ein nichtsnutziger Vagabund, so hat Burke den Burschen genannt, ein Streuner, der stets auf der Suche nach einer kostenlosen Mahlzeit durch die Straßen irrt, immer mit
seinem schwarzen Köter im Schlepptau, einem Streuner wie er selbst. Ein Trottel mag der Junge ja sein, aber ganz nutzlos ist er nicht.
    Er ist der Schlüssel zu Rose Connolly.
    Bis vor Kurzem hat Billy noch mit Rose in einem Rattenloch in der Fishery Alley gehaust. Der Junge muss wissen, wo sie zu finden ist.
    Und heute Abend wird der einfältige Billy bestimmt reden.
    Der Junge bleibt plötzlich stehen, und sein Kopf schnellt in die Höhe. Irgendwie hat er gespürt, dass da noch jemand in der Gasse ist, und er blickt sich suchend nach einem Gesicht um. »Wer ist da?«, ruft er. Aber er bemerkt nicht den Schatten, der dort im Hauseingang lauert, stattdessen geht sein Blick zum anderen Ende der Gasse, zu der Silhouette, die sich plötzlich im Lichtschein einer Straßenlaterne abzeichnet.
    »Billy!«, ruft ein Mann.
    Der Junge verharrt reglos, das Gesicht dem Eindringling zugewandt, der immer näher kommt. »Was woll’n Sie von mir?«
    »Ich will nur mit dir reden.«
    »Worüber, Mr. Tate?«
    »Über Rose.« Eben kommt noch näher. »Wo ist sie, Junge?«
    »Ich weiß es nicht.«
    »Komm schon,

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