Leichenroulette - Roman
betrat ich nur mehr selten und ungern. Allmählich wurde er zur Rumpelkammer. Im Laufe der Zeit habe ich mich mit meinem Schicksal abgefunden, obwohl mich der Anblick kleiner, fröhlich vor sich hinplappernder Kinder stets wehmütig stimmt.
Die Kinderlosigkeit ließ mich unsere scheußliche Bierhäuslberg-Siedlung, die sich mir wegen der Grünlage, der guten Luft und der Möglichkeit des Auslaufs für mein Mädchen und meinen Buben empfohlen hatte, mit immer kritischeren Augen sehen. Viele hatten sich hier ihre kühnen Träume vom billigen Wohnen erfüllt. Es gab Holzhäuser im Stil der Tiroler Bergwelt, moderne asymmetrische Betongebilde mit Flachdä chern und schlitzartigen Fenstern, die wie auf Belagerung eingerichtete Bunker wirkten, neben lieblichen von spanischen Haziendas inspirierten Minivillen. Alle verfügten über kleine, gut einsehbare Gärten, die, wie es der Obmann und die strengen Statuten des Sied lungsvereins vorschrieben, stets gepflegt zu sein hatten. Große, blättertragende Bäume waren unerwünscht, immergrüne, kleinwüchsige Koniferen bevorzugt. Das Gras der Grünstreifen musste kurz bleiben, Naturwiesen durfte es aufgrund des Pollenflugs der Unkräuter nicht geben. Grillplatz samt Pizzaofen gehörte zur erlaubten und allgemein vorhandenen Standardausstattung. Auf Ruhe, vor allem mittags und abends, wurde streng geachtet. Selbst Hundebesitzer mussten ihren heiß geliebten und verwöhnten Lieblingen, deren Exkremente stets für wilde Streitereien mit den Müttern kleiner Kinder sorgten, zu dieser heiligen Stunde des Verdauens das ansonsten ohne Unterlass durch die An lage gellende Kläffen untersagen. Für Mähen und Häck seln – ein überaus beliebter Zeitvertreib – waren genaue Zeiten vorgeschrieben, die auch auf die Sekunde genau eingehalten wurden. »Es ist schon erstaunlich, wie all die Leute, die sonst ordinär über jeden Schmarrn schimpfen, vor dem Herrn Obmann kriechen«, kommentierte ich Poldi gegenüber die von unserer Siedlungsgenossenschaft ausgeübte Diktatur.
Kapitel 6
6
Die Sonne über meinem Eheleben verdüsterte sich zusehends, Leopold wurde immer schrulliger. Er gab endlose Tiraden von sich, vernachlässigte sein Aussehen und sah immer hässlicher aus. »Er is schon komisch, glaubst net?«, fragte mich meine Schwiegermutter bei einem ihrer Wienbesuche ganz unverblümt. »Er wird immer mehr wie der Pepi-Onkel. Nur hat der a große Pension.« Damit spielte sie auf Poldis Großonkel an, der seit Jahrzehnten seinen Ruhestand genoss. Die Aussicht, infolge der Unfähigkeit meines Mannes bis zur Rente arbeiten zu müssen, verdross mich sehr. Trotzdem blieb ich stumm. Zum einen lehnte ich es ab, mich auf derart primitive Weise mit meiner Schwiegermutter zu verbrüdern, zum anderen schätzte ich Poldis Großonkel sehr. War doch jeder Besuch bei dem mittlerweile sehr betagten Herrn keine Pflicht, die es zu absolvieren galt, sondern eine mein eher eintöniges Leben erhellende Abwechslung.
»Sir«, so nannten wir respektvoll den 97-jährigen, scharfsinnigen, höchst originellen Bruder von Leopolds Großvater. Er war ein ehemaliger Meteorologe und Flieger, der schon seit Jahrzehnten seine erstaunlich hohe Pension genoß und sich bis in sein biblischen Alter noch das Aussehen und den Charme eines Gentlemans der alten Schule bewahrt hatte. Er verfügte auch noch immer in überreichem Maße über all das, was seinem schwerfälligen Neffen fehlte: Witz, Humor und Ironie. Seit ihn vor einiger Zeit beim hastigen Überqueren der Straße ein Auto mitten auf dem Zebrastreifen umgefahren hatte, war er fast ganz an seinen Lehnstuhl gefesselt. Er trug diesen Schicksalsschlag mit bemerkenswerter Fassung und ohne Murren oder Klagen. Bücher waren von jeher seine Leidenschaft gewesen, die neue Situation machte ihn zum geradezu unersättlichen Leser, den es ständig nach neuer Lektüre verlangte. Auch ein Werk über historische Verbrechen hatte er studiert. In seiner witzig-penetranten Art sagte er zu mir: »Soll ich dir schildern, wie man einen perfekten Mord begeht? Du musst mir aber versprechen, nicht vielleicht den Poldi umzubringen! Ha, ha, ha!« Damit machte er mich auf die »Badewannenmorde« aufmerksam, die im Jahr 1915 in England geschehen waren.
Das war unser »Sir«, wie er leibte und lebte. Von ihm bekam ich nicht nur Anregungen, sondern er hat mich oft aus den Anflügen düsterer Depression gerissen, die bei mir ganz ohne Übergang einsetzten und die Phasen heiteren
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