Leichenroulette - Roman
stämmig und fröhlich, die Freundin meiner längst verflossenen Kindertage. »Die Hermi!«, rief sie. »Die Mizzi!«, rief ich. Wir begrüßten einander voll über schwänglicher Freude und verfielen instinktiv sofort in den Dialekt unserer Waldviertler Heimat. »Wos mochst do? Wo kummst her? Wia geht’s da?«
Wir betrachteten einander voll Wohlwollen. »Guat host di g’holten!«, kommentierten wir höflich die geringen Spuren unseres fortgeschrittenen Alters, umarmten uns freudig und verabredeten an Ort und Stelle ein Treffen. »Gemma am Somstag um zehn ins Dommayer?«
Mizzi erzählte mir, dass sie einen wesentlich älteren Handelsangestellten geheiratet habe, die gemeinsamen Kinder seien mit ihren vierundzwanzig und zwanzig Jahren bereits erwachsen und außer Haus. Zu unserem Entzücken stellten wir fest, dass wir in Hietzing und Hütteldorf, also in benachbarten Bezirken, nur getrennt durch den Wienfluss, wohnten – und dies, ohne es geahnt zu haben, schon seit vielen Jahren. Das Dommayer in Alt-Hietzing war uns beiden natürlich ein Begriff. Ich selbst durfte mich dort sogar, was mich mit Stolz erfüllte, zu den privilegierten Stammgästen zählen.
Dieses alteingesessene Lokal ist ein Kaffeehaus in der typischen Wiener Tradition. Die Einrichtung ist schönstes Art déco aus der Zeit um 1930, behaglich und gemütlich – gepolsterte Bänke in Nischen, sogenannte Logen für intimere Privatgespräche, Tischchen und Thonet-Sessel in der Mitte für die Gäste, die nicht lange zu verweilen gedenken. Schwarz gekleidete Kell ner wachen über das Wohl der Gäste und ihren eigenen Status. Sie werden respektvoll mit »Herr Ivo« oder »Herr Albert« angesprochen und herrschen nach Art aufgeklärter Monarchen des 18. Jahrhunderts über ihre Untertanen, streng, gerecht, aber undemokratisch. Ihre Gunst muss man sich verdienen. Beim Antreten ihres Dienstes schweifen ihre Blicke aufmerksam durchs Lokal: »Guten Morgen, die Herrschaften!« Unbotmäßige Gäste werden nicht beachtet oder in die Schranken gewiesen.
»Es ist Ihre Aufgabe, mir einen Platz zu suchen!«, hörte ich einmal einen der Aussprache nach norddeutschen Eindringling rufen. »Na, wirklich net, i glaub, i dram (träume)!«, lautete die höhnische Antwort von Kellner Ivo. »Was, der Garten ist noch nicht geöffnet?«, erboste sich jemand an einem schönen Maitag. »Ich komme nie mehr wieder!« – »Do san’s ober selber schuld«, replizierte Ober Albert herablassend. »So a Lokal gibt’s in gonz Wien net!«
Stammgäste hingegen, die sich durch anständiges Benehmen und eine gewisse Unterwürfigkeit in die Seele der bedienenden Götter geschlichen haben, leben – egal ob Tier oder Mensch – im Paradies. Sie werden verwöhnt, verhätschelt, physisch und psychisch betreut. Hunde jeder Größe erhalten Wasser, gleiten auf das bereitgestellte »Tackerl« unter die Tische, wo sie schläfrig vor sich hinbrüten, um nur bei der Annäherung eines Rivalen kläffend hervorzuschießen. Von der schwarzen, überheblichen Hauskatze, die erhobenen Hauptes und ohne Furcht hochmütig durch das Lokal schreitet, auf den Fensterbrettern sitzt, liegt und sich putzt, werden sie, wie wir Wiener sagen, nicht einmal ignoriert. Die Katze »Gundi« lebte, als ich Mizzi wiederfand, schon eine geraume Weile im Lokal, genauer gesagt seit dem Tag, als sie ein älterer Gast der Obhut der Kellner anvertraute, bevor er selbst in ein Seniorenheim entschwand.
Menschliche Stammgäste befragt man ausführlich nach ihrem Befinden, erfüllt ihnen exzentrische Sonderwünsche. Man bestreicht für sie resche Frühstückssemmeln mit Butter, bestreut ihnen Brote mit Schnittlauch, serviert an die zwanzig verschiedene Kaffeesor ten, versorgt sie mit Ersatzbrillen, wenn sie die eigenen vergessen haben, bringt ihnen die gewünschten Zeitungen samt Kommentar an den Tisch und verabreicht sogar Aspirin, wenn die Auswüchse der österreichischen Politik ein Ausmaß angenommen haben, dass sie Kopfschmerzen bereiten. Einen hochbetagten erkrank ten Stammgast hat – wie man sich voll Bewunderung und Grausen zuraunte – Kellner Ivo sogar zu Hause aufgesucht, um ihm seine gewohnte Bestellung – Thun fisch-Brot, gefolgt von einem Wiener Krapfen und einem Kaffee (einem »Einspänner«) – zu überbringen. Ereilt die derart Verwöhnten trotz langer Jahre aufmerksamster Betreuung ihr menschliches Schicksal, kündet davon eine schwarz umrandete, im Lokal ausgehängte »Parte«, und der
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