Leichenroulette - Roman
faltenlose Kinn irgendwie nicht ganz in das übrige Gesicht passte, begleitete mich, vornehm säuselnd, zum Ausgang der Ordination, wo sie mir ihre verwelkte Hand reichte: »Bitte lassen Sie uns Ihre Entscheidung bald wissen, wir sind sehr, sehr ausgebucht. Patientinnen von Film und Fernsehen überfluten uns, wir müssen lange im Voraus planen.«
In der mondänen Praxis in Oberdöbling hat man mich nicht mehr gesehen. Dabei wäre, wie Meister Frankenstein ganz richtig bemerkte, wirklich »einiges« zu tun gewesen. Nicht besonders schön, mit hängenden Oberlidern, kleinen Tränensäcken, abstehenden Ohren, Stupsnase, mausgrauen Haaren und zur Fülligkeit neigender Figur war mir – gerechterweise, wie ich selbst zugeben musste – jeder Erfolg verwehrt geblieben. Im Beruf und auch, wie mir der tägliche Anblick meines mickrigen Mannes vor Augen führte, im Privatleben. Von Glamour keine Spur. Meine Finanzen waren stets so deprimierend, dass ich mich nur mühsam von einem Monatsersten zum anderen schleppte.
Noch immer weilten meine Gedanken bei Inspektor Neil im Jahre 1915. Auch als ich bei meinem täglichen Besuch im Drogeriemarkt in der Nähe meiner Bank noch ein paar Kosmetiktücher, die zur freien Entnahme bereitlagen, als Vorrat für den Tag einsteckte, bevor ich an meine Arbeitsstelle eilte, beschäftigte mich das »Rätsel der Badewannen«.
Höchst gespannt und im Bewusstsein, dass Inspektor Neil weiterermitteln durfte, begleitete ich meine Kollegen am Mittag nicht in das billige, mit goldenen Ornamenten vollgestopfte, übelriechende China-Restaurant an der Ecke Währinger/Nußdorfer Straße, wo wir zwei- bis dreimal die Woche hingingen und wo man sich um nur 35 Schilling nach Belieben am Buffet bedienen konnte. Die Devise des Lokals »Essen Sie, so viel Sie können« sagte mir zu, und da sie keine Zeitangabe enthielt, legte ich sie stets großzügig aus, hatte eine Tupperware-Schale bei mir und versorgte mich und Poldi auch gleich für das Abendessen.
Doch die Neugier auf »Smith-Lloyd« ließ mich diesmal auf den glutamatgeschwängerten chinesischen Einheitsbrei, der oftmals Kopfschmerzen bereitete, und die leiernde Singsangmusik verzichten. Ich entschuldigte mich mit Appetitlosigkeit, ließ die anderen ziehen, setzte mich in den winzigen Aufenthaltsraum für Angestellte und las weiter.
Inspektor Neil verhaftete Smith-Lloyd beim Abheben der Lebensversicherung und nahm ihn in vorübergehenden Gewahrsam. Bald kannte man seinen richtigen Namen: George Joseph Smith, Sohn eines Versicherungsagenten, Zögling einer Besserungsanstalt für kriminelle Jugendliche, der später eine Karriere als Betrüger, Schwindler und Dieb einschlug und etliche Jahre im Zuchthaus verbrachte. Mit seinen wechselnden Identitäten konfrontiert, gab Smith-Lloyd die Namensänderung zu. »Aber was haben Sie mir, einem zweifachen schwer geprüften Witwer, sonst noch vorzuwerfen? Ich führe schon längst ein anständiges Leben, meine letzte Verfehlung ist verjährt«, meinte er, ob der Belästigung tief gekränkt.
»Du bist ein Mörder!«, rief ich voll Emotion laut aus und wusste mich damit mit Inspektor Neil im Einklang. »Wer, ich?«, ließ sich mein Kollege Gerhard Grätz, der gerade aus der Mittagspause zurückkehrte, verwundert vernehmen.
Ich gab ihm keine Antwort. Zu sehr gefiel mir die Hartnäckigkeit von Neil, dem es gelang, Bernard Spilsbury, den berühmten Pathologen des Home Office, für sich zu gewinnen. Er sollte den geheimnisvollen Fall von der medizinischen Seite her aufrollen. Fehlten uns doch Beweise, Beweise und nochmals Beweise.
Spilsbury ordnete zunächst die Exhumierung der Leiche von Margaret Lloyd an, um festzustellen, ob die junge Frau ertrunken war oder man sie ertränkt hatte, eine Unterscheidung, die sich um 1915 noch sehr schwierig gestaltete. Es gab zwar bereits diagnostische Möglichkeiten, doch beim Tod durch gewaltsames Ertränken setzte man immer noch auf einen Faktor: Die Opfer setzten sich zur Wehr, im Todeskampf entwickelten sie Riesenkräfte. Sie zwangen ihre Mörder, zur Gewaltanwendung, die unausweichlich Quetschungen und Kratzwunden zurückließ. Spilsbury untersuchte die Leiche mit der Lupe und zunehmender Verzweiflung Zoll um Zoll nach Spuren von Verletzun gen ab – alles vergebens. War Gift im Spiel gewesen? Organproben bewiesen das Gegenteil.
Obwohl sich die Kriminalpolizei um Geheimhaltung bemühte, erfuhr die englische Presse von den Recherchen des Pathologen. »Die Bräute im
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