Leichenroulette - Roman
One-Night-Stands. Ja, warum denn?, begehrte ich auf. Warum sollte man in dieser Situation nichts reden?
Überhaupt herrschten strenge Regeln: »Die Reihenfolge einhalten – vorstellen, kennenlernen, Bett.« Das klang logisch, aber doch eher wie die Vorbereitung eines Ringkampfes. Umso mehr, als rückständige Männer die totale sexuelle Emanzipation anscheinend nicht begriffen. Noch immer stellten sie die irrelevante infantile Frage, gegen wie viele Ex-Lover sie im Bett »anzutreten« hätten. Derartige Blödheiten lasse man unbeachtet und unbeantwortet, lautete der Ratschlag der modernen Amazonen. Ich vernahm, dass man durch männlichen Schweißgeruch »an- oder abgetörnt« werden konnte. Ekelte man sich vor Ausdünstungen und wünschte sich einen sauberen Mann im Bett, wurde zu einem eleganten Schachzug geraten: »Solltest du dich noch frisch machen wollen – hier ein Handtuch!« hieß es dann. Außerdem wäre es Mode, am ganzen Körper haarlos zu sein.
Auch das sollte kein Hindernis sein! Ich unterzog mich, obwohl es mir sehr unangenehm war, einer radikalen Body-Rasur, während der ich voll Angst, hässlich, alt und altmodisch zu sein und nicht mehr mithalten zu können, vor mich hin sinnierte: Hatten sich die Wünsche der Frauen seit meiner Jugend wirklich so drastisch gewandelt?
Die grundlose Verwendung unflätiger Ausdrücke entsetzte mich, bis ich lernte, zwischen den forschen Zeilen zu lesen. Verblüfft merkte ich: Es hatte sich rein gar nichts geändert. Die verschämten »Liebesbeichten« meiner Jugend hießen nun »Intim-Protokolle«. Statt Damen outeten sich nun Mädels und dies in einer Art, die mir die Schamröte ins Gesicht trieb. Ich bin halt nicht »in«, das muss ich überwinden!, tadelte ich mich für meine bedauerliche Schwäche. Man sprach nicht, sondern »talkte« über die große Liebe. Romantische Gefühle jeder Art waren dabei »out«.
Trotzdem begriff ich bald: »Nicht nur für eine Nacht!«, die frühere Absage an sexlüsterne Männer ohne feste Absichten, hieß nun, leicht idiotisch for muliert: »Ich will, dass ein Mann mit der kompletten Packung von mir schläft, nicht nur mit meinem Körper!« Sprach das »Blatt für die Hausfrau« einst verschämt von »Erfüllung«, »großer Liebe« und »Wie erobere ich einen Traummann?«, so lautete dies nun: »Richtig guten Sex hat man nur, wenn man ein eingespieltes, aber nicht routiniertes Paar ist!«
Wie unerotisch. Kein Wort von Scham, von Sünde, keine Verbote, keine Tabus, deren Bruch reizte. Nun riss man sich anscheinend nach einer – selbst bezahlten – Tasse Kaffee im Hinterzimmer oder auf der Toilette eines Lokals für einen Quickie die Kleider vom Leib, betrieb – nach Gebrauchsanweisung – oralen, analen oder sonst einen Sex, um sich nachher wieder nahtlos in den Job zu stürzen. »Liebe und Lust bedeuten Arbeit! Man muss wach bleiben – im Alltag und im Bett!«, lautete die Aussage einer 23-jährigen Psycho therapeutin, die Sex wohl mit schwerer körperlicher Strafarbeit gleichsetzte.
Mich amüsierte, dass die kessen »Lifestylemaga zine« ohne Ausnahme und ganz wie die biederen Da menzeitschriften von anno Schnee Tages- und Wochen horoskope boten. »Sind Sie verliebt?«, las ich unter meinem Sternzeichen, dem des Löwen. »Dann gehen Sie doch aufs Ganze. Jupiter prophezeit Glück in der Liebe und im Spiel.« Ein gutes Omen! Geradezu maßgeschneidert für mich! Auch Ratschläge für die gute Küche fehlten nicht. Kein lustvolles Sex-Abenteuer ohne ein Rezept für Kalbsbraten mit Beilagen im Kerzenschein, kalorienarme Gerichte zum »Slimmen« oder die Empfehlung, die Haare nur nach den Mondphasen zu waschen und den Lauf der Gestirne beim Gießen der Blumen zu beachten. Eigentlich doch sehr bieder, die ultramoderne Welt der Girls.
Verwirrt von den rasch wechselnden Sitten und Gebräuchen erlitten meine hochfliegenden romantischen Träume einen Dämpfer. Im Zwiespalt der Gefühle bedauerte ich, mich bei niemandem aussprechen zu können. Eine ehemalige Kollegin vorgeschrittenen Alters, von der ich wusste, dass sie ihren Mann regelmäßig betrog, meinte auf meine zaghaften Andeutungen: »Nur im Finstern, im Finstern, sonst geht gar nichts mehr!« Und meine Kosmetikerin, mit der ich in der Hoffnung, von fremden Erfahrungen zu lernen, die vielen Affären prominenter Mitbürger erörterte, während sie die Falten in meinem Gesicht mit einer Pflegemaske zu glätten suchte, sagte emotionslos: »Na ja, Sie wissen eh,
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