Leichenroulette - Roman
Zustand krampfhaft zu verbergen. Bald trafen wir uns auch an Wochenenden, wanderten viele Stunden in der Nähe des Dorfes Kaltenleutgeben, wo schon Mark Twain Erholung suchte, saßen auf moosbedeckten Stei nen in den einsamen Nadelwäldern. Florian zuliebe und unter seiner Anleitung lernte ich den Unterschied zwischen Speise- und Giftpilzen. Erstere wusste der passionierte Hobbykoch nicht nur raffiniert zuzubereiten, er lagerte sie auch ein, um damit die Wintergerichte zu verfeinern. Meist kehrten wir am frühen Abend, kurz vor Einbruch der Dunkelheit, bei einem Heurigen ein. Wenn wir in Perchtoldsdorf, der schönen mittelalterlichen Kleinstadt vor den Toren Wiens, im idyllischen, blumengeschmückten Garten beim »Zechmeister« an einem der grünen Heurigentische saßen, Wein tranken und Flo mir in die Augen sah, konnte ich die wunderbare Wendung meines Schicksals kaum fassen.
Eine große Freude war für mich in jener Zeit auch der Kurs am WIFI , den ich zweimal wöchentlich besuchte. Er stand unter der Leitung des witzigen Mag. Gierer, einst Analyst einer renommierten Wiener Bank, nunmehr privater Finanzberater und Lehrbeauftragter, der freimütig seine eigenen Misserfolge bei Spekulationen eingestand: »Und am nächsten Tag is dann der Dollar g’falln!« Von ihm wurde ich mit zehn anderen Amateurzockern mit mehr oder weniger Praxis über die schillernde und tückische Börsenwelt aufgeklärt. »Warum, glauben S’, erfinden die Geldinstitute immer neue Anlageprodukte? Weil s’ so gscheit sind? Na, na! Nur um Ihnen Sand in die Augen zu stran. Denen geht’s nur um den Ausgabeaufschlag, die Verwaltungsgebühren und Nebenspesen. Ob des Papier was bringt oder net, ist denen wurscht! Sie wern immer draufzahln!« Gebannt lauschten wir dem Meister, es fiel uns wie Schuppen von den Augen! Lustige Anekdoten aus dem Finanzmilieu, einem wahren Eldorado für Groß- und Kleinkriminelle, belebten die Lektionen. Der Ta schenrechner machte mir nur anfangs Schwierigkeiten, bald jedoch konnte ich die Rechenbeispiele für Gewinn, Verlust, Margen und Renditen mühelos lösen.
Nach dem Unterricht eilte ich nach Hause, setzte die Lesebrille auf, warf meinen neuen Personalcomputer an, loggte mich in mein Portefeuille ein und setzte meine Kenntnisse um. Ein Mausklick, und schon war ich online dabei. Wild »tradete«, kaufte und verkaufte ich also, was das Zeug hielt: Aktien von Banken, Futures auf Öl und Kakao, Gold und Devisen. Die Spekulation mit unbekannten Titeln des aufstrebenden chinesischen Marktes lockte mich besonders. Ebenso zogen mich kleine, innovative südkoreanische Software-Firmen magisch an.
Ich erwarb auch das von Mag. Gierer empfohlene Magazin »Der erfolgreiche Zocker«, schlug es auf und lachte über den Bericht von einem Experiment. Hatte man im alten Griechenland das Orakel von Delphi befragt und zweischneidige Antworten erhalten, so beschritt die Finanzwelt nun anscheinend ähnliche Wege. Man stattete Schimpansen mit Darts aus und ließ sie auf eine Tafel mit Firmennamen schießen. Bald verging den Profis das Lachen. Zur Verblüffung der Fachwelt erzielten die Affen eine ausgezeichnete »Performance«. Sie wählten lukrativere Aktien aus als gewiefte, jahrelang an Charts und Analysen geschulte Banker. Den Herren und Damen im Nadelstreif dürfte es nur geringen Trost bereitet haben, dass sie mit den Schimpansen 98 % ihrer Gene teilten, also nah mit ihnen verwandt waren.
Nach der Lektüre des Artikels wusste ich selbstverständlich, was zu tun war. Mittels ausgesuchter Leckerbissen – »Incentives« oder »Boni«, wie das bei uns Profis heißt – sicherte ich mir die freudige Mitarbeit eines Experten. Ich schrieb eine Anzahl börsennotierter Titel auf ein kariertes Blatt Papier, jede Firma in ein Kästchen, legte dieses auf den Boden, tauchte Murlis Pfoten in eine – selbstverständlich unschädliche – Lebensmittelfarbe und animierte ihn zu einem Spaziergang über die Aktienlandschaft. Dies stellte eine Notlösung dar, denn mir war ganz klar, dass Murli den Umgang mit Darts verweigern würde. Die vom Kater markierten Titel erwarb ich ohne Widerspruch. »Murli, solln wir wirklich China Mobile kaufen? Und Anteile australischer Goldminen? Na ja, wenn du meinst!« Murli wurde ein versierter, sehr erfolgreicher, etwas eingebildeter Börsenspekulant. Für jeden Gewinn erhielt er, wie bei Finanzgeschäften üblich, ein Erfolgshonorar, das Menschen oft, Tiere jedoch stets in Naturalien beziehen. Bald trug
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