Leichenschrei
zurück. Sein Fleisch war hart, hart wie Granit, hart wie in der Totenstarre.
Gütiger Gott.
Ich kniete neben ihm nieder und zog die Decken von seinem Gesicht.
Nein. Oh nein. Bitte nicht.
Drews Mund stand starr offen, seine Lider waren halb geschlossen. Ich hob die Decken hoch, sah aber keine Wunden, nichts.
Durch die Bewegung verrutschte seine Kappe. Seine rechte Schläfe war durch ein kleines, geschwärztes Loch entstellt. Ich zog ihm die Kappe ab. Die linke Hälfte von Drews Schädel war fort, genau wie die linke Seite der Kappe.
Ich fuhr zurück. Ich wollte in Tränen ausbrechen. Drew war tot. Tot. Und zwar schon lange bevor ich hergekommen war.
Aber das konnte doch nicht sein. Wie …?
Wo war die Waffe?
Ich atmete tief durch und tastete dann vorsichtig Drews Körper und anschließend den Boden ab. Ein großer Revolver lag auf den Dielen. Sorgfältig vermied ich es, ihn noch einmal zu berühren.
Ich nahm Drews steife Hand in meine und wiegte mich vor und zurück. Es tut mir so leid, Drew. So leid.
Wieder sah ich den Jungen vor mir, der meine Süßigkeiten und mich gegen die Burschen verteidigt hatte, die mich schikanieren wollten. Ich sah den Jungen mit dem netten Lächeln und der freundlichen Art, der mir das Gefühl verliehen hatte, etwas Besonderes zu sein. Ich weinte hemmungslos und schaukelte in meinem Kummer hin und her. Nach einer Weile spürte ich die Wärme und Nässe einer Zunge. Die gute Peanut leckte mein Gesicht und versuchte geduldig, meinen Kummer zu lindern.
»Es tut mir leid, mein Mädchen«, sagte ich und lehnte den Kopf an ihren. Zitternd atmete ich ein und dann ruhig wieder aus. Zeit, an die Arbeit zu gehen.
Ich wischte mir mit einem Zipfel der Decke übers Gesicht. Ich fügte Drew dem Fotoalbum der Toten in meinem Kopf hinzu, wo bereits Laura, Gary und viele andere waren.
Und jetzt sprich mit mir, Drew.
Ich untersuchte ihn mit den Augen.
Eine großkalibrige Kugel hatte das Loch in der rechten Schläfe verursacht. Es hatte kaum geblutet. Die Baseball-Kappe war alt und abgetragen. Er hatte noch vor Kurzem etwas auf seinem ansonsten sauberen Lederhemd verschüttet. Die Schnalle seines Gürtels saß auf dem letzten Loch. Weil er so viel Gewicht verloren hatte, vermutete ich. Er trug Jeans.
Ich biss mir auf die Lippe, weil mir der nächste Schritt schwerfiel.
Durch die Decke tastete ich nach seinem Fuß und bewegte dann sein Bein vor und zurück. Ich drückte seinen Oberschenkel. Auch da keine Totenstarre.
Die Totenstarre breitet sich vom Kopf bis in die Extremitäten aus und verschwindet dann wieder in umgekehrter Richtung. Drew war also bereits vollständig steif gewesen, und jetzt hatte der umgekehrte Prozess eingesetzt. Nur Schultern, Hals und Gesicht waren noch starr. Er war also bereits eine ganze Weile tot. Ich tippte darauf, dass er irgendwann zwischen elf Uhr gestern Abend und fünf Uhr morgens gestorben war. Aber ich war keine Expertin, und ich wusste, dass auch die Zimmertemperatur eine Rolle spielte.
Ich hatte weder ihn noch das Kordit aus der Pistole gerochen, was an dem medizinischen Geruch im Haus lag.
Peanut jaulte erneut.
Was machte ich da nur? Ich musste die Polizei anrufen und Hank. Arme Annie. Auch für Hank würde es ein Schock sein. Ein schlimmer Schock.
Ich tastete hinter mir nach dem Handy, das auf dem Couchtisch lag. Meine Hand stieß gegen etwas, und ich spürte, wie mein T-Shirt feucht wurde.
Mist. Ich hatte die Milch umgeschüttet, die nun alles nass machte. Ich angelte nach der Zeitung. Ich schüttelte mich. Im Moment war ein Glas verschüttete Milch nicht so wichtig. Ich hob ein Blatt Papier auf, auf dem etwas gedruckt war.
Liebe Familie, liebste Annie,
in diesem Augenblick bin ich bei klarem Verstand, aber ich weiß, dass das nicht von Dauer ist. Ich …
Peanut stieß ein tiefes Bellen aus. Sie stand auf, und ihr Körper spannte sich wie ein Bogen. Dann knurrte sie mit entblößten Zähnen und schlich langsam hinüber zu der Wandnische mit den Bücherregalen.
Meine Kopfhaut kribbelte. Kein gutes Zeichen. Ganz und gar nicht.
Ich stopfte Drews Abschiedsbrief in meine Tasche und folgte Peanut. Ich versuchte, ganz beiläufig zu wirken, als ich aus dem halb geöffneten Fenster lugte. Ich sah nichts.
Aber ich hörte etwas. Draußen. Ein Pfeifen. Jemand war draußen und pfiff ein Lied. Und zwar ziemlich schief. Es war ein Lied, das ich kannte.
Benzingeruch drang mir in die Nase. Ich beugte mich weiter aus dem Fenster und atmete tief ein. Mist.
Weitere Kostenlose Bücher