Leichenschrei
erinnerte in nichts an den zerzausten Mann mit dem verletzten Hund, den ich auf der Bangor Road aufgelesen hatte. Komisch, ich hatte bereits mit Drew Jones gesprochen und es nicht einmal gewusst.
Carmen dagegen wusste es natürlich. Ich war sicher, dass es sie ziemlich amüsiert hatte.
Drews Hand zitterte, als er ein Glas mit Punsch hob. Genau wie in jener regnerischen Nacht. Sein langer, buschiger Bart mochte vielleicht verschwunden sein, genau wie die Sonnenbrille und die Schirmkappe, die seinen kahlen Kopf bedeckt hatte, aber jetzt konnte ich doch die Ähnlichkeit mit dem Fremden in meinem Wagen erkennen.
Als Drew das Glas an die Lippen führte, trafen sich unsere Blicke.
Die Art, wie er mit einem Finger winkte, fast schon salutierte, wirkte ironisch. Er wusste, dass ich nach ihm Ausschau gehalten hatte und dass die Jagd jetzt vorüber war.
»Entschuldigen Sie mich«, sagte ich zu Daniel und der Ärztin.
Als ich mich durch die Menge der Trauergäste schob, kehrte ich in die Vergangenheit und zu dem Jungen zurück, der mir an Halloween meine Süßigkeiten wiedergeholt, mich getröstet und mir Gesellschaft geleistet hatte, bis mein Vater zurückgekommen war. Ein hübscher Junge, der mit der Zeit noch hübscher geworden war, wenn man den ungezählten Fotos des Kongressabgeordneten Drew Jones glauben durfte. Aber er hatte sich erneut verändert, und jetzt standen seine Wangenknochen spitz hervor, und sein Gesicht war faltig und eingefallen. Als ich näher kam, trat Drew mir entgegen.
Seine Augen blitzten, als er mir die Hand reichte. »Miss Tally Whyte. Wie ich hörte, haben Sie nach mir gesucht. Nach mir und Peanut, um genau zu sein.«
»Das habe ich, Mr Jones. Wie schön, sie schließlich, äh, doch noch zu treffen.«
Sein leises Glucksen war entwaffnend. »Ja. Na ja, verzeihen Sie auf jeden Fall mein unhöfliches Verhalten in jener Nacht. Mir ging es in letzter Zeit nicht sehr gut, und da fühle ich mich unwohl im Beisein von F…F…Fremden.«
Der Kongressabgeordnete Jones, den ich in Aufzeichnungen gehört hatte, hatte weder genuschelt noch gestottert. Ich sah ihn forschend an. Vielleicht nahm er Drogen oder trank, obwohl ich keine Fahne riechen konnte. »Es tut mir leid, dass Sie krank waren.«
»Und mir tut es leid, dass ich Katz und Maus mit Ihnen gespielt habe. Carmen meint, ich hätte mich wie ein Narr verhalten.« Sein Grinsen ließ zwei entzückende Grübchen in den Wangen auftauchen. Dann brach ein Zittern aus, lief durch seinen Körper und löschte das Lächeln aus.
»Mr Jones, ich …«
»Wie war doch gleich noch Ihr Name?«
Oje. »Ich bin Tally. Tally Whyte.«
Sanft fuhr er mit seiner zitternden Hand die Konturen meines Gesichts nach. »Sie erinnern mich an jemanden. Das ist lange, lange her, glaube ich, aber dieser Tage hat die Zeit keine Bedeutung mehr. Ich … Danke, dass Sie Peanut gerettet haben.«
»Ich bin froh, dass es ihr gut geht. Können wir uns ein bisschen unterhalten? Draußen vielleicht?«
»Nicht hier.« Er schüttelte den Kopf wie ein Hund, der den Regen aus dem Pelz schleudert. Er holte einen Notizblock aus der Brusttasche, zog einen Kuli aus der Spiralbindung, schrieb etwas und riss das Blatt dann ab. »Die Wegbeschreibung zu meinem Camp. Kommen Sie morgen oder übermorgen oder am Tag danach.«
»Spielt die Zeit eine Rolle?«
Sein Lachen klang traurig. »Nicht, seit ich den Capitol Hill verlassen habe. Wie war doch gleich noch mal Ihr Name?«
Ich nahm ihm den Block und den Stift aus der Hand und schrieb meinen Namen und meine Telefonnummer darauf. »Da haben Sie’s.«
»Ich bin manchmal etwas vergesslich.«
»Ich auch.« Ich steckte den Block wieder in seine Brusttasche. »Wir alle machen …«
Drew ließ mich einfach mitten im Satz stehen.
»Es geht ihm nicht gut.«
Ich wandte mich um. Dr. Cambal-Haywards besorgter Blick folgte Drew.
»Was stimmt denn nicht mit ihm?«, fragte ich.
Ihr Blick lag auf Drew, bis er sich neben Annie auf die Couch gesetzt hatte. »Es steht mir nicht zu, über die Angelegenheiten meiner Patienten zu reden.«
»Die Forensik, dann Annie Beal, jetzt Drew Jones. Sie sind eine viel beschäftigte Frau, Doktor.«
»Das bin ich«, sagte sie und verschränkte die Hände hinter dem Rücken. »Aber noch einmal: Nennen Sie mich doch bitte Cathy, ja? Wir sind hier alle ziemlich locker, was das angeht. Kommen Sie mit.«
Sie nahm meine Hand und führte mich aus dem Zimmer. Wir drängten uns durch die Menge und betraten schließlich den
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