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Leichentuch: Band 2 der Blutdrachen Trilogie (German Edition)

Leichentuch: Band 2 der Blutdrachen Trilogie (German Edition)

Titel: Leichentuch: Band 2 der Blutdrachen Trilogie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralph G. Kretschmann
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zogen. Die Wälder waren den Menschen unheimlich, dunkel, unergründlich und ohne Wege. Die Dörfler und Städter mieden diese abgelegenen Gebiete. Werwölfe und Raubtiere sollten dort ihr Unwesen treiben, hieß es. Der Aberglaube tat sein Werk und hielt die Landschaft frei von Waldbauern, die sonst ihre Schneisen und Lichtungen ins Gehölz schlugen.
    Vicus schürte diese Angst, wo er konnte. Er hängte die Schädel verendeter Tiere an die unteren Äste der Bäume, die den Wald säumten, um Reisende und Wanderer abzuschrecken. Er errichtete Pyramiden aus Knochen und versah sie mit allerlei Krimskrams, den er sammelte, wenn er nur geheimnisvoll oder angsteinflößend wirkte. Es war alles nur Humbug, aber der tat seine Wirkung. Man ließ ihn in Ruhe. Er hatte seine Klause weit entfernt von jeder menschlichen Siedlung errichtet. Er mied den Kontakt mit ihnen, soweit das nur irgend möglich war. Nur ein, zwei Mal im Jahr, zu den Markttagen, begab er sich in unterschiedlichsten Verkleidungen in eines der erreichbaren Dörfer, um sich mit Dingen zu versorgen, die er nicht selbst herstellen konnte, wie Beile, Messer oder eisernes Geschirr zum Kochen.
    Vicus achtete darauf, sich so gut es ging zu pflegen. Er hielt sein Haar sauber und schabte sich den Bart jede Woche erneut. Er wusste, dass ein Mann leicht die Kontrolle verlor, wenn er allein und einsam lebte. Einst war er ein Wissender gewesen, ein Schamane, ein Zauberer, wie manche ihn genannt hatten. Aber die Kirche war immer mächtiger geworden und hatte den einfältigen Menschen die Köpfe verdreht und ihre Augen geblendet. Es durfte nur einen Gott geben, den der Christen, und Rom ließ jeden hinrichten, der etwas anderes predigte. Vicus hatte wenig Lust verspürt, sich diesem Glauben anzuschließen, und noch viel weniger, auf einem Scheiterhaufen zu brennen.
    Er wusste, dass es den einen Gott der Christen so wenig gab wie den der Hebräer oder den der Araber. Es gab keine Götter! Es gab die Natur, die große Mutter. Es gab den Wind, den Regen und die Sonne und die tiefen Geheimnisse, die sie bargen. Aber diese Wahrheit wollte keiner hören. So ging er in die Wälder, wo er sicher war. Sicher vor der Verfolgung durch die Schergen der Christen.
    Das war nun schon so lange her! Keiner der Männer, die er gekannt hatte, war noch am Leben. Ob gut oder schlecht, alle hatte der Tod im Lauf der Jahre mit seinen Flügeln gestreift. Der Papst, der seinen Tod gewollt hatte, der Statthalter in Buda, der ihn brennen lassen wollte, und die Frau, die er geliebt hatte, sie alle waren den Weg allen Fleisches gegangen. Nur er war geblieben. Sah man ihn zum ersten Mal, so mochte man ihn für einen Mann von vielleicht fünfzig Jahren halten, von Wind und Wetter gegerbt und mit sonnenverbrannter Haut. Sein wahres Alter kannte er selbst nicht genau, aber er erinnerte sich an fast zwei Jahrhunderte, die an ihm vorbeigezogen waren, an Kriege und an gute Zeiten, wobei die guten Zeiten in der Minderzahl waren. Seit über dreißig Jahren lebte er nun schon in den Wäldern der Walachei und lebte das Leben eines Schamanen.
    Er kannte die Pflanzen, die Pilze und Flechten und wusste, wie man aus ihnen die verschiedensten Tränke braut. Tränke, die ihm den Zugang in die Anderwelt öffneten. Dort hatte er Freunde, dort war seine wirkliche Heimat und eines Tages würde er ganz dorthin gehen. Aber noch nicht! Noch wartete eine Aufgabe auf ihn. Welche das war, hätte er nicht sagen können, so wenig, wie er hätte sagen können, wie viele Blätter an den Bäumen des Waldes wuchsen. Die Geister der Anderwelt hatten ihm zugeraunt, dass er noch etwas zu tun hatte in der Welt der Menschen, etwas, das nur er würde tun können, etwas Wichtiges. So wichtig, dass das Schicksal der ganzen Welt davon berührt wurde. Und solange er diese Aufgabe nicht erledigt hatte, konnte er nicht sterben.
    Vicus hatte in den Monaten des Sommers Kräuter gesammelt und zubereitet. Jede Jahreszeit hatte ihre besonderen Pflanzen. Im Sommer wuchsen der Frauenmantel, die Taglilie und der Stechapfel. Im Herbst erntete er Fliegenpilze und Schwämme. Daraus braute er seine Zaubertränke, was eine große Genauigkeit erforderte. Ein Quäntchen zu viel und er mochte den Verstand verlieren, ein bisschen zu wenig und der Trank würde keine Wirkung haben. Aber Vicus wusste genau, was er zu tun hatte, und verfügte über die Erfahrung von Jahrzehnten. Heute war Lughnasahd, das Mondfest. Wenn heute nach Einbruch der Nacht der volle Mond über

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