Leichentuch: Band 2 der Blutdrachen Trilogie (German Edition)
Die Luft war schwül und es würde nicht mehr lange dauern, bis es zu regnen beginnen würde. Sie scheuchte die Mücken fort, die über die Lichtung schwirrten. Sie konnte das Brummen um sich herum hören, deutlich wie ein nahes Gespräch. Seit sie verwandelt worden war, hatten diese lästigen Insekten sie in Ruhe gelassen, aber trotzdem verscheuchte Rebekka sie, als fürchte sie, gebissen zu werden.
Alte Gewohnheit. Schließlich hatten die Mücken sie in jedem Sommer ihres Lebens belästigt. Sie musste erst lernen, dass sich das geändert hatte. Rebekka schob das Schwert in die provisorische Scheide, die sie aus einer Decke genäht hatte. Den Streitkolben hielt sie in der Faust. Er war zu groß, um ihn zu verstecken. Sie warf noch einen Blick in den verfinsterten Himmel und machte sich langsam auf den Rückweg. Sie hätte laufen können, dann wäre sie in wenigen Minuten an den Mauern von Poenari gewesen, aber sie wollte noch eine Weile ihren Gedanken nachhängen. Sie hatte noch Zeit, bis der Regen kommen würde. Und wenn sie nass würde – was sollte es schon? Eine Erkältung würde sie sich kaum einfangen. Sie war so sehr in ihre Gedanken vertieft, dass sie den Geruch zuerst nicht wahrnahm.
Erst leicht, dann immer schwerer hing der süßliche Geruch von Verwesung in der Luft. Ein Grollen durchlief das Firmament. Rebekka sah hoch. Ein Gewitter. Sie konnte das Ozon in der Luft riechen, das der Blitz in der Atmosphäre freigesetzt hatte. Und dann roch sie den Tod in der Luft. Rebekka ging leicht in die Knie und drehte sich langsam um ihre Achse. Die Luft bewegte sich kaum, sodass schwer zu sagen war, woher der Geruch kam. Ihre Vampiraugen durchdrangen das Dunkel der Nacht. Doch da war nichts. Sie lauschte. Nichts außer dem Summen der Mücken und ein paar Vögeln. Eine Fledermaus jagte in der Finsternis. Hinter ihr schlich ein Igel durch die Büsche.
Rebekka bewegte sich vorsichtig weiter. Der Geruch wurde intensiver. Noch ein paar Schritte. Mehr nach rechts. Der Geruch wurde zu Gestank. Sie roch geronnenes Blut und sich zersetzende Organe. Es stank nach Blut und Pisse. Vor ihr lag ein Gebüsch und der Intensität des Gestanks nach zu urteilen befand sich das, was tot war, dahinter. Dafür sprach auch die Wolke von Fliegen, die sich darüber tummelte. Es musste ein großer Kadaver sein. Nein, sagte sich Rebekka, es waren mehrere Tote. Georgs Wissen sagte ihr das. So stanken die Leichen von vielen toten Menschen. Tiere rochen anders im Tode. Rebekka trat um das Gebüsch herum. Vor ihr lagen die Leichen von mehr als zehn Männern. Alle waren erstochen oder von Klingen aufgeschlitzt worden. Es mussten geübte Mörder gewesen sein. Sie hatten schnell und präzise gearbeitet.
Die Männer hatten nicht einmal ihre Waffen ziehen können. Nur zwei hielten ihre Schwerter noch in den verfaulenden Fäusten. Die Schwerter der anderen Toten steckten noch in ihren Scheiden. Sie hatten alle die gleichen Waffenröcke an. Auf der Brust prangte ein Wappen, das Rebekka schon gesehen hatte. Es war das gleiche Wappen, das dieser Stabener auf seinem Rock trug. Das Wappen Leopold von Segescins. Der aber hatte Vlad gegenüber behauptet, er sei den ganzen Weg nur mit seinem Vertrauten geritten. Da stimmte irgendetwas ganz und gar nicht. Rebekka rannte den Rest des Weges so schnell sie konnte. Unten vor der Mauer angekommen hängte sie sich den Streitkolben um die Schulter und stieg an der Burgmauer hoch zu ihrem Zimmer. Sie versteckte Schwert und Keule unter dem Bett und schlüpfte in andere Kleider.
Die Lederkleider waren gut zum Kämpfen, aber unpassend, wenn sie durch die Festung ging. Die leichtere Hirschlederkleidung mit dem weit geschnittenen Rock schien ihr passender. Sie lauschte kurz. Der Gang war leer. Sie schlüpfte hinaus und zu von Steinborns Raum. Ohne anzuklopfen trat sie ein. Von Steinborn zuckte zusammen, als sie unvermittelt im Zimmer stand. „Verdammt, Mädchen!“, fluchte er. „Eines Tages wirst du mich zu Tode erschrecken!“ Rebekka hob beschwichtigend die Arme. „Das lag nicht in meiner Absicht, Freiherr, verzeiht! Aber ich muss mit Euch reden!“ „Ohne anzuklopfen? Nun, dann muss es wohl dringlich sein, scheint mir. Setzt Euch doch!“ Rebekka nahm Platz.
Von Steinborn, der schon zu Bett gegangen war und noch bei Kerzenlicht gelesen hatte, blieb im Bett sitzen. Rebekka atmete tief durch und berichtete mit kurzen Worten, was sie im Wald gefunden hatte. Von Steinborns Mine verfinsterte sich wie der Himmel
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