Leichentuch: Band 2 der Blutdrachen Trilogie (German Edition)
den Wipfeln stand, würde er wieder eine Reise in die Anderwelt antreten. So machte er es seit Jahren. Es war wichtig, dass er die Verbindung zur Anderwelt aufrechterhielt.
15. Kapitel
Rebekka hatte von Steinborn das Kettenhemd geschenkt, das sie aus der Gruft geholt hatte, die tief unter der Festung Poenari lag. Das Schwert und den Streitkolben hatte sie verborgen gehalten. Nur wenn sie allein war und die Tür gut verschlossen, holte sie die beiden Waffen aus ihrem Versteck unter ihrem Bett. Sie übte mit den Waffen, wenn sie die Möglichkeit dazu fand. Da sie nicht schlief, nutzte sie oft die Nacht, um unten vor der Burg den Gebrauch zu trainieren. Auch am Tage machte sie Waffengänge mit dem Freiherrn und sie hatte schon eine große Geschicklichkeit im Umgang mit den scharfen Klingen erworben. Von Steinborn hatte sie ein Naturtalent genannt. Das mochte sein, aber Übung konnte nicht schaden. Ihr kam die Kraft des Vampirs zugute. Sie ermüdete nicht, wenn sie mit dem Schwert kämpfte und das enorme Gewicht des Streitkolbens bereitete ihr keine Mühe. Sie handhabte die schwere Waffe mit spielerischer Leichtigkeit.
Rebekka schwang den stachelbewehrten Kolben durch die Luft und ließ ihn gegen einen kräftigen Baum krachen. In einem Regen aus Holzsplittern fuhr das Metall durch den Baum wie durch eine Spanschachtel. Die Spitze des Baumes neigte sich und bevor er den Boden erreichte, hatte sie ihn mit dem scharfen Schwert in ihrer Rechten noch einmal durchtrennt. Seit einer guten Stunde übte sie schon auf der kleinen Lichtung, die sie ein paar Meilen entfernt von Poenari entdeckt hatte. Sie brauchte kaum eine Viertelstunde, um dorthin zu gelangen. Auch im Laufen war kein Mann ihr gleich. Sie konnte sogar ein Pferd in vollem Galopp schlagen und kam dabei nicht einmal außer Atem.
Das ständige Training brachte ihr mehrere Vorteile. Zum einen steigerte sie ihre Kontrolle über die Waffen, die ihre eigene Dynamik hatten. Zum anderen lehrte sie das Üben die Bewegungsabläufe. Immer schneller und ohne bewusstes Denken hantierte sie mit den tödlichen Instrumenten. Das gab ihr die Freiheit, ihre Gedanken fliegen zu lassen. Es gab viel zu bedenken.
Da war zum Beispiel das Buch. Nostradamus kam langsam voran. Langsamer als Rebekka und ihm selbst lieb war. Die ersten beiden Texte hatte er recht schnell extrahiert und übersetzt. Sie beschrieben, wie der Drache entstanden war und wie er vom Orden gebannt worden war. Im zweiten Text, der in Aramäisch geschrieben war, gab es ein paar Ungereimtheiten. So war dort die Rede vom Haupt von Stein. Aber was sollte das bedeuten? Nostradamus glaubte, dass sich die Bedeutung enthüllen würde, wenn er den dritten Text lesen konnte, aber so weit war er noch nicht.
Dann war da von Steinborn. Rebekka war sich nicht sicher, wie sie für den Freiherrn empfand. War es mehr als Freundschaft und das Bedürfnis, den Freund zu schützen? Und was war mit ihrem Gefühl von Verderben, das sie bei der Anwesenheit von Vlad Draculea empfand? Da war dann noch der neue Gast, dieser Leopold von Segescin mit seinem Diener oder Freund, was auch immer dieser vernarbte Krieger sein mochte. Der Kriegsherr war ein finsteres Loch für Rebekka. Sie hatte ihn nur aus einem Versteck heraus beobachten können, aber selbst auf diese Entfernung konnte sie das Verderben spüren, das diesen Mann umgab wie Rauch ein Feuer aus nassem Holz. Welche Absichten dieser Mann hatte, konnte sie nicht erkennen, nur, dass er ein böser Mensch war, durch und durch verdorben. Doch er genoss den Schutz Vlad Tepes‘.
Der Pfähler war sein Ordensbruder und in der Hierarchie des Ordens stand von Segescin über Vlad. Und als Letztes war da noch der Drache. Von Segescin hatte den versteinerten Drachen gefunden, dessen Standort verloren gegangen war. Was konnte das alles nur bedeuten? War es überhaupt relevant für ihre eigenen Belange oder lenkte es sie nur ab von dem, was wahrhaftig wichtig war? Rebekka schwirrte der Kopf und sie wünschte sich nichts mehr, als dass endlich irgendetwas geschähe. Sie hatte auch versucht, in Georgios Erinnerungen einen Rat zu finden. Was hätte der erfahrene Georgios getan? Aber sie fand nichts, das ihr weiterhelfen konnte. Sie würde allein mit dieser Situation fertig werden müssen.
Ein Regentropfen traf sie ins Gesicht. Rebekka hob den Blick zum Himmel. Der Mond hatte groß und rund am Himmel gestanden, als sie losgegangen war. Es war fast Vollmond. Jetzt hingen schwere, dunkle Wolken über ihr.
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