Leichentuch: Band 2 der Blutdrachen Trilogie (German Edition)
Pupillen. Im reinen Weiß der Augäpfel schimmerte ein heller, blauer Ring.
Die Frau oder was dieses Wesen auch sein mochte, hob ihre geschlossene Faust und streckte sie Vicus entgegen. Langsam öffnete sie ihre Finger und legte frei, was sie in der Faust verborgen hielt. Darin lag eine zarte Blüte von einer Pflanze, die Vicus noch nie gesehen hatte. Die Frau beugte sich vor und hauchte gegen die Blüte, die sich daraufhin in einen Schmetterling verwandelte und davonflatterte. Jetzt konnte man sehen, dass unter der Schmetterlingsblüte ein winziger Skorpion gesessen hatte.
Der winzige Skorpion hob seinen Stachel und stieß ihn der Schönen blitzschnell in den Finger. Die Frau zuckte zusammen, verzog das Gesicht vor Schmerz und in wenigen Augenblicken war sie zu einem Haufen blauen Staubes zerfallen, den der Wind davontrug. Nur der kleine Skorpion blieb übrig und lief in Windungen davon. Dort, wo die Frau gestanden hatte befand sich nun ein Loch, groß genug für einen erwachsenen Mann. Der Wind nahm zu und trieb immer mehr Staub vor sich her. Vicus legte sich in das Bodenloch und suchte Schutz, aber der Boden schloss sich über ihm. Dies war die Anderwelt. Vicus hatte keine Furcht. Auch nicht, als ein gewaltiger Donnerschlag die Stille zerriss. Ein Lichtstrahl fiel ins Dunkel, wurde breiter, strahlender. Vicus setzte sich auf. Über ihm erhob sich eine Gestalt wie eine Mischung aus Katze und Schlange. Mit schnellen Prankenschlägen befreite das Wesen Vicus. Dann trat es zurück und deutete auf seinen Bauch.
Vicus sah, wie sich der Nabel des Wesens weitete, aufbrach und ein Gegenstand mit feinsten Ziselierungen sich aus den Eingeweiden freischälte. Der Gegenstand schwebte vor dem Wesen und wuchs, veränderte seine Form. Vor Vicus hing ein silbern schimmerndes Ei, über und über mit allerfeinsten Ornamenten bedeckt. Dann zeigten sich Risse auf dem Ei, es brach auseinander und ein schwarzer Wirbel drang aus seinem Inneren, wurde größer, wuchs und wurde zu einem Wesen, das aussah wie jenes, das er zuerst gesehen hatte, nur um ein Vielfaches größer und grässlicher. Ein Teil Löwe, ein Teil Echse, mit Flügeln gleich einer Fledermaus. Hoch wie ein Baum ragte es auf und sein Brüllen ließ den Boden erzittern: „FÜRCHTE MICH!“ Dann brannte sich eine Flamme aus dem Boden und saugte das riesige Wesen auf. Ein wabernder Schatten blieb, in dem undeutlich neblige Schleier wogten. Eine weiche, dunkle Stimme sprach zu Vicus: „Die sieben sind eins. Sie sind geteilt. Sieben sind Eins und Sechs in zwei. Wenn sieben sieben sind, wird die Erde brennen und Anderwelt mit ihr. Sieben müssen zwei bleiben. Dies ist die Botschaft der Dunklen. Überbringe die Botschaft.“
Der Schatten begann sich aufzulösen.
„Wem soll ich die Botschaft überbringen?“, rief Vicus dem Wesen zu. „Der Sechs, du musst die Sechs finden!“ Dann löste der Schatten sich vollends auf. Ein roter Regen begann zu fallen, wurde dichter. Wie eine Wand aus rotem Wasser rauschte der rote Regen herab, wurde immer dichter, bis Vicus von den Fluten emporgehoben wurde. Er fühlte, wie er in der undurchsichtigen Brühe herumgewirbelt wurde, dann eine letzte Welle und Vicus wurde sanft und weich auf einem Grund aus winzigen Kugeln abgelegt.
Vicus blinzelte mit den Lidern. Er war neben dem Feuer auf der Lichtung zusammengesackt. Sein Herz pochte regelmäßig. Kalter Schweiß stand ihm auf der Stirn. Er war zurück. Es dauerte eine Weile, bis er wieder auf den Beinen stehen konnte. Dann wankte er zu der Stelle, an der er seine Sachen abgelegt hatte und aß und trank. Das Zittern in den Beinen nahm immer mehr ab und dann fühlte er sich kräftig genug, um zu dem kleinen Bach zu gehen und sich zu waschen. Dann schlüpfte er wieder in seine Kleidung.
Er hatte eine Botschaft empfangen. Er hatte eine Aufgabe von den Dunklen erhalten. Er sollte die Botschaft überbringen. Aber wem? Wer waren die sechs? Vicus machte sich darüber nicht zu viele Gedanken. Er kannte die Anderwelt und die Geheimnisse der Dunklen. Er würde geführt werden. Er würde die Sechs finden. Oder sie ihn. Das würde sich zeigen. Vicus schulterte sein Bündel und machte sich auf den Rückweg. Wolken hatten sich vor den Mond geschoben und der Wald lag finster und unwirtlich vor ihm, aber er kannte sich gut aus. Er würde seinen Weg finden.
23. Kapitel
Stabener fühlte sich unwohl. Er hatte seinem Herrn immer blind vertraut, aber seit geraumer Zeit wurde der sonst so besonnene
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