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Leichte Turbulenzen bei erhöhter Strömungsgeschwindigkeit (German Edition)

Leichte Turbulenzen bei erhöhter Strömungsgeschwindigkeit (German Edition)

Titel: Leichte Turbulenzen bei erhöhter Strömungsgeschwindigkeit (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maggie Shipstead
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Stadt zog, ein trinkfester junger Angestellter in Schlips und Kragen unter lauter Junggesellen, die waren wie er, begann das Gefühl an ihm zu nagen, dass sich der Segen seines Vaters dem Verfallsdatum näherte. Tipton sagte es nie, er äußerte niemals Missbilligung, aber er erwähnte auch nie mehr etwas von Jugend und Entschuldigungen. Wenn Winn sein Elternhaus besuchte, was immer seltener geschah, nahm Tipton ihn zu langen, tristen Mahlzeiten in den Vespasian mit, während derer sich Vater und Sohn ausschließlich über das Tagesgeschehen und die Todesfälle und Hochzeiten von gemeinsamen Bekannten austauschten.
    Nach Winns Überzeugung gehörte es sich für maßgebende junge Männer sorglos zu sein, während es sich für maßgebende erwachsene Männer gehörte, die Last der Respektabilität zu tragen und Würde zu beweisen. Er fragte sich, wann der Zeitpunkt gekommen sein würde, die Musik abzustellen, die Betrunkenen nach Hause zu schicken, die Luftschlangen auszukehren und für Babywiegen und Labradorhunde Platz zu machen. Jetzt vielleicht? , überlegte er, als er sein Glas abstellteund sich von einem Gespräch mit einem schönen Mädchen abwandte, um in den Swimming Pool seines Freundes Tyson Baker zu kotzen. Als er ein paar Monate darauf hörte, dass Tyson Baker bei einem Eishockeyspiel auf einem kleinen See eingebrochen und wie ein Stück Blei versunken und ertrunken war, dachte er wieder: Jetzt? Als er beim Aufwachen feststellte, dass ein feuchtkaltes Stück von der Strumpfhose seiner Freundin wie eine Maske auf seinem Gesicht klebte; als er bei einer Hochzeit einen Champagnerkelch mit einem Buttermesser köpfte, obwohl er nur leise ans Glas klopfen wollte, um einen Toast anzukündigen; als er sich auf dem Bürgersteig vor einem Pfannkuchenimbiss einen Zahn absplitterte; jedes Jahr zu Weihnachten, Silvester, zum Geburtstag, bei Beerdigungen, Hochzeiten, als er an der Tür lauschte, während eine Freundin weinend in der Badewanne lag: Jetzt? Jetzt? Jetzt?
    Am Ende war es der Tod seines Vaters, der Winn mit einunddreißig Jahren zum Mann machte. Bei der Trauerfeier, während ein Schulfreund von Tipton einen Bibeltext herunterleierte, spürte Winn, wie die letzten Körner seiner Jugend davonrieselten. Sein Vater hatte die Sanduhr für ihn ein wenig schief gehalten, die Zeit ein wenig bemogelt. Doch jetzt, ohne die väterlichen Hände, hatte sich die Uhr aufgerichtet und der Sand lag wie ein Häuflein Asche auf dem Grund. Tipton war einundsiebzig geworden und an einer außergewöhnlich aggressiven Form von Prostatakrebs gestorben, gegen den er sich nicht zur Wehr gesetzt hatte. Sein Golfpartner trat an das Pult und räusperte sich. »Ich lese einige Zeilen aus der Offenbarung des Johannes«, sagte er ins Mikrophon. Er wirkte seltsam in seinem dunklen Anzug, nackt ohne seinen karierten Pullunder und seiner mit einem Puschel verzierten Golfmütze.»Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde; denn der erste Himmel und die erste Erde sind vergangen, und das Meer ist nicht mehr.« Jetzt, nach dem Tod seines Vaters, war Winn der einzige Mann in der Familie, und da seine Mutter zweifelsohne bald durch den kumulativen Sog ihrer eingebildeten Krankheiten in die Ewigkeit übergehen würde, blieb nicht mehr viel Zeit, bis er überhaupt der Einzige in der Familie war, ein Mann mit sämtlichen verstorbenen Van Meters auf den Schultern. Über den Nordosten verstreut hatte er eine Reihe von Cousins und Cousinen, Tanten und Onkel, allesamt nicht von der väterlichen Seite, sondern von den kraftlosen Zweigen der vornehmen Familie seiner Mutter, untersetzt und mit übergroßem Habsburgkinn. Angehörige einer Dynastie, die ein paar Generationen zu lang überdauert hatte. Sie zählten für ihn kaum als Verwandte.
    Während seiner eigenen Trauerrede fiel Winn eine junge Frau in der vierten oder fünften Reihe auf, Elizabeth Hazzard, genannt Biddy, die er kannte, aber nicht sehr gut, nur als die Tochter eines entfernten Geschäftsfreundes seines Vaters. Sie reichte ihr Taschentuch der Frau neben sich, die ihre Mutter sein mochte, aber ihre eigenen Augen betupfte sie nicht. Er stockte bei ihrem Anblick, und er räusperte sich, als kämpfe er gegen Tränen an. Im Weiterreden spürte er, dass er in erster Linie zu Biddy sprach, ihr von seinem Vater erzählte, der ein würdevoller, ehrenwerter Mann gewesen sei, von allen wohlgelitten, die ihn kannten, ein ausgezeichnetes Vorbild. Ihm gefiel, dass sie keine von den vielen war, die

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