Leichte Turbulenzen - Roman
einziges Mal Zimmerarrest bekommen. Diesen Kindern schien es trotzdem nicht zu schaden. Sie stieg die Treppe hinauf, in der Manteltasche klingelte ihr Handy. Gemeinsam mit ihrem Haustürschlüssel zog sie es hervor. Nathalie war dran. »Ivy-Schatz! Bist du gut angekommen?«
»Ja, natürlich. Bis darauf, dass so ein Verrückter neben mir im Flieger saß, der mich zu Thanksgiving nach North Carolina zu seinen Eltern mitnehmen wollte.«
»Woher weißt du, dass er verrückt war?«
»Er hat mich zu Thanksgiving nach North Carolina eingeladen! Reicht das nicht als Beweis?«
»Ist doch nett. Wie hieß er denn?«
»Hab ich vergessen. Desmond oder so.«
Ivy schloss die Wohnungstür auf, während ihre Schwester immer weiter redete. »Hat er dich nach deiner Telefonnummer gefragt?«
»Nein.«
»Warum nicht?«
»Wahrscheinlich weil ich gesagt habe, dass ich ihn nicht nach North Carolina begleiten werde.«
»Sah er denn wenigstens gut aus? Hast du ihn schon gegoogelt?«
»Nein, denn ich komme gerade erst nach Hause.« Ivy trat in ihre kalte Wohnung ein und ließ die Tür ins Schloss fallen.
»Und warum hast du nicht zugesagt? North Carolina soll total schön sein. Spielt da nicht auch dieser herzzerreißende Film mit Kevin Costner, den wir uns Weihnachten vor vier Jahren auf DVD angesehen haben? Message …«
»Hallo?! Ich kenne diesen Mann doch gar nicht!«
»Und warum lädt er dich dann zu Thanksgiving ein?«
»Ich sage doch: Das war ein Wahnsinniger.«
»Oh, aber Ivy, dann schraub endlich mal die Sicherheitskette an, die Peer und ich dir letztes Weihnachten geschenkt haben. Nicht, dass der Typ plötzlich nachts in deiner Wohnung steht. Hast du ihm gesagt, wo du wohnst?«
Ivy nahm ihre schwere Tasche von der Schulter und stellte sie auf einem der Sessel ab. »Nein! Aber wo ich arbeite.«
»Wieso das denn?« Nathalie klang ziemlich aufgeregt. »Hinterher ist es der Gleiche, der Vincent van Gogh das Ohr abgesägt hat.«
»Mein Gott!« Ivy rieb sich unwillig die Nase. »Er ist gerade erst nach London geflogen. Er kann es gar nicht gewesen sein.«
»Wieso? Er kann doch hin- und herfliegen.«
Nathalie neigte dazu grundsätzlich vom Schlimmsten auszugehen. Auf dem Spielplatz ließ sie Lucy nicht eine Sekunde aus den Augen, weil sie befürchtete, ihre Tochter könnte sterben, wenn sie sich eine Zigarettenkippe in den Mund steckte. Das hatte Lucy dummerweise einmal getan, als Ivy auf sie aufgepasst hatte, während Nathalie wild gestikulierend mit einer Kindergartenmutter diskutiert hatte, ob man Kinder gegen Masern impfen lassen sollte oder nicht.
Durch das große Fenster kam das gelbliche Licht der Laternen herein. Ivy hatte keine Lust, die Deckenlampe anzuknipsen. Ihre Schwester steigerte sich zunehmend in ihre Alarmbereitschaft hinein. »Dann tu mir wenigstens den Gefallen, dass du in den nächsten Wochen nur noch mit Willem das Gebäude verlässt.«
Gott, das nervte vielleicht.
»Natti, ich muss auflegen. Danke noch mal für alles, auch, dass du immer für mich da bist. Das wollte ich dir schon lange mal sagen. Und ich find’s auch nicht schlimm, dass du Mamas Glasperlenketten trägst, sie stehen dir sehr gut, und ich finde es schön, wenn Lucy mit ihnen spielt, und ich bin froh, dass ihr Papa so oft zu Hause besucht und dass ihr so eine glückliche Familie seid. Mach’s gut.«
»Versprich mir, dass, wenn der Typ …«
Ivy legte auf, schaltete den Ton ab und warf das Telefon hinüber aufs Bett, bevor ihr Nathalie noch einen Haufen guter Ratschläge mit auf den Weg geben konnte. Auf der meergrünen Überdecke, die früher über der Pritsche im Zeichenzimmer der Mutter gelegen hatte, blinkte das Handydisplay. Dieser Irrsinn – woher kam der nur?
Schließlich gab Nathalie es auf, ihre Schwester zu erreichen, stellte das Telefon zurück in die Ladestation und setzte sich zu Peer aufs rote Viersitzersofa. Zum fünften Mal, seitdem sie Lucy ins Bett gebracht hatten, hörte er jetzt schon die von Maria Callas gesungene Arie »Vissi d’arte« aus Puccinis Tosca , weil die Peer an ihr Kennenlernen bei den Trawallys zu Silvester vor knapp sechs Jahren erinnerte. Eigentlich waren das weder Freunde von Nathalie noch von ihm gewesen, viel eher protzige Bekannte, die Nathalie wiederum beim Geburtstagsessen ehemaliger Arbeitskollegen kennengelernt hatte. Peer war den beiden auf der Hochzeit eines alten Schulfreundes begegnet. Nathalie lehnte ihren Kopf an seine Schulter. »Ich sage dir, die wollten sich mit mir
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