Leichte Turbulenzen - Roman
flachen Ledersohlen ihrer Sandalen klatschten auf die feuchten Pflastersteine. In den offenstehenden Garagen lagerten die Kisten der Gemüsehändler. Sie kam direkt auf ihr Zuhause zu, dessen Backsteinfront mit verwelkten Glyzinien und Efeu fast vollständig überwuchert war. Da oben, im zweiten Stock, wohnte sie. Das große Fenster war ihres.
Morgen früh würde sie gleich mit den ersten Skizzen von van Goghs Gesichtszügen beginnen. Eigentlich hätte sie letzte Woche bereits mit dem Modellieren anfangen müssen, doch das Einsetzen der Haare von Pippa Middleton hatte derart lange gedauert, dass sie ihrem Zeitplan hinterherhinkte. Um die verlorene Arbeitszeit wieder aufzuholen, würde sie keinesfalls in dieser Woche mit Willem ins Kino gehen. Und schon gar nicht hinüber in The Globe zum Mittagessen. »Ich kann nicht«, würde sie zu ihm sagen. Sie würde gar nichts essen, sondern nur arbeiten. Überhaupt war Ivy am leistungsfähigsten, wenn sie hungerte. Schon während des Studiums hatte sie bemerkt, dass sie halluzinogene Stoffe freisetzte, die sie unheimlich produktiv machten und in ihr ein Gefühl von Stärke und Überlegenheit aufkommen ließen. Von morgens bis abends würde Ivy im Atelier bleiben und Vincent Van Gogh materialisieren. Strich für Strich. Tonklumpen für Tonklumpen. Auch wenn der Herbst sich golden über London legte, würde sie nicht hinausgehen, nicht am gegenüberliegenden Unigebäude für Architekten vorbeischlendern, was sie für gewöhnlich gerne tat, um sich die jungen Studenten in ihren schwarzen Röhrenjeans und zu kleinen Jacketts anzusehen, die unter dem Vordach Zigaretten rauchten. Mit ihrem eigenwillig mädchenhaften Gesicht ging Ivy gut als Fünfundzwanzigjährige durch, weswegen die männlichen Studenten des Öfteren versuchten, sie auf einen Kaffee einzuladen oder sie zu einem Clubkonzert mitzunehmen. Was Ivy grundsätzlich mit einem breiten, höflichen »No! Thank’s!« ablehnte. Solche Verabredungen führten nirgendwohin. Abgesehen davon, dass man am nächsten Morgen neben einem dünnen Studenten in einer unaufgeräumten WG aufwachte. Im Prinzip wusste Ivy genau, was sie wollte. Eine Familie. Sie wusste nur nicht, wie sie an dieses Ziel gelangen sollte. Offenbar hatte sie vor Jahren den falschen Abzweig genommen und fand nun nicht wieder zurück auf ihren eigentlich zugedachten Pfad des Glücks.
Ivy schloss die Haustür auf und knipste das Licht im Treppenhaus an, dessen mintgrüne Wände mal wieder einen Anstrich gebraucht hätten. Vielleicht würde dieser Desmond ihr schon morgen nach Feierabend im Halbdunklen vor Madame Tussauds auflauern und sie die Marylebone Road hinunter verfolgen, bis zur Baker Steet, wo sie hinunter in die Station lief, er immer hinterher. Nie wieder würde sie ihn loswerden. Kein normaler Mensch lud eine wildfremde Frau zu Thanksgiving zu seinen Eltern nach North Carolina ein. Vermutlich war er längst besessen von ihr. Grundlos. Das würde sie ihm im Zug Richtung Notting Hill Gate sagen: »Sie sind grundlos besessen von mir!« Sie würde sich an der Haltestange festhalten, in der anderen Hand ihre kleine, tannengrüne Harrods-Tüte, und ihm sagen: »Ich bin eine reine Projektionsfläche für Sie. Ich bin nicht das, was Sie glauben!«
In der ersten Etage brüllten die beiden kleinen Nachbarjungs und Frank. Kinder zu erziehen war offenbar eine ziemliche Herausforderung. Das meinte sogar Nathalie, die nichts anderes tat, als Lucy zu erziehen, wobei sie bemüht war, auf keinen Fall die »psychische Belastungsgrenze« ihrer Tochter zu überschreiten. In dem Pädagogikfachblatt Familie & Co hatte sie unter der Überschrift »Mütter – eine Negativliste« gelesen, dass man Kindern relativ leicht ein Trauma beibringen konnte. Aus diesem Grund achtete Nathalie penibel darauf, sich weder wie die »einsame Mutter« noch wie die »Mitmachmutter« zu verhalten. Einmal allerdings war ihr die Hand ausgerutscht, als Lucy eine volle Traubensaftflasche auf die Küchenfliesen gefallen war. Die daraus resultierende Aufregung war so allumfassend gewesen, dass ihr Vater aus dem Wendland hatte anreisen müssen, um Nathalie über die schwersten Schuldgefühle hinwegzutrösten. Einmal hatte Ivy im Sommer gehört, wie einer der beiden Nachbarjungs, vermutlich der fünfjährige Neal, unten aus einem der gekippten Fenster gerufen hatte: »Mummy, Daddy, könnt ihr mir bitte mal die Tür aufmachen?« Offenbar hatten sie ihn eingeschlossen. Ivy hatte in ihrem Leben nicht ein
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