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Leichte Turbulenzen - Roman

Leichte Turbulenzen - Roman

Titel: Leichte Turbulenzen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C. Bertelsmann
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Unzählige Fotos hatte er von seiner Frau gemacht, auf denen sie freudig lächelte. Oder Bilder, auf denen sie verliebt die winzige Ivy im Arm hielt oder die Mädchen auf Trixies Rücken beschwingt den Feldweg hinunterführte. Doch! An eine Geschichte aus der Nachbarschaft, die Veronika an diesem Abend erzählt hatte, konnte er sich noch gut erinnern, an das kleine Mädchen mit den Albträumen, das nicht von dem Gefühl loskam, in einer fremden Familie gelandet zu sein. Hatte Veronika sich bei ihm nicht aufgehoben gefühlt? Hatte er den Subtext dieser Geschichte nicht verstanden? Er sah Lucy an, als wüsste sie die Antwort. Seine Frau hatte sich nicht umgebracht. Sie war durch eine Unachtsamkeit ertrunken.
    Es gab keine offenen Fragen. Alles war gut, so wie es war.
    »Nathalie«, sagte er und schob die Brotstückchen auf dem Teller wie Schachfiguren herum. »Erinnerst du dich noch an das rote Fotoalbum, das früher bei Mama oben auf der Pritsche lag?«
    »Bitte?« Nathalie stand vor dem geöffneten Kühlschrank und blickte hungrig hinein, auf der Suche nach etwas Essbarem.
    »Das rote Fotoalbum. Würdest du auch sagen, dass Mama auf den meisten Bildern gelacht hat?«
    »Ich kann mich an kein Foto erinnern, auf dem Mama drauf war. Du hast doch nur Landschaften oder Grabsteine fotografiert.«
    »Könntest du … «, Walter atmete schwer. »Könntest du den Kühlschrank bitte zumachen? Das verbraucht unnötig Energie.«
    Nathalie reagierte überhaupt nicht, sondern hob die Alufolie an, die Walter als Deckel über einer Müslischüssel geformt hatte, und sah hinein. »Was ist das denn Ekliges?«
    »Der Rest von Heidis Mittagessen!« Walter rutschte auf dem Stuhl hin und her. »Weißt du, wo das rote Fotoalbum liegt? Es lag doch früher immer auf Mamas Pritsche.«
    Endlich gab seine Tochter der Kühlschranktür einen Stoß, sodass die Flaschen auf der Innenseite aneinanderschepperten, und entleerte umgehend den Schüsselinhalt in den Mülleimer. Von weit weg hörte Nathalie Lucys Stimme. »Mama, Opa hat dich was gefragt.«
    Mit den Gedanken war Nathalie längst woanders. Bei dem Abend vor ein paar Tagen, als Peer nach dem Essen unvermittelt gemeint hatte, er habe plötzlich einen enormen Durst auf Coca-Cola. Und obwohl sich der Spätkauf direkt unten im Nebenhaus befand, hatte er bestimmt zwanzig Minuten gebraucht, um sich seine Dose Cola zu kaufen. Als er schließlich wieder zur Tür hereingekommen war, hatte er demonstrativ sein Handy in der Hand gehalten und so getan, als habe er unterwegs dringende, berufliche Nachrichten abgehört. Was hatte das zu bedeuten? Bis sie nicht genau wusste, mit wem er heimlich unten auf der Straße telefoniert hatte, würde sie diese quälende Unruhe nicht loswerden. Lucy probierte es noch einmal. »Mama, Opa hat dich was gefragt!«
    Nathalies Fantasie produzierte ein unschönes Bild nach dem anderen und ließ ihre Welt zerbrechlich, wertlos und verlogen erscheinen. Hinter ihrem Rücken lief etwas ab, von dem sie noch keine Ahnung hatte, was es war. Sie spürte ganz deutlich diese unterirdische, blubbernde Strömung, die irgendwann mit voller Kraft durch die Oberfläche brechen und wie glühende Lava alles vernichten und fortspülen würde, was sie sich mühsam aufgebaut hatte.

7.
    Um zehn Uhr am Freitagabend nahm Ivy Vincents Auge hoch und ließ sich von ihm eingehend betrachten. In der spiegelnd schwarzen Pupille schrumpfte ihr Kopf mit den zurückgebundenen blonden Haaren auf Ameisengröße. Dafür floss ihr Oberkörper im unteren Drittel der smaragdgrünen Iris unproportional auseinander. Wie eigenartig man doch im Auge des Betrachters aussehen konnte. Sie legte die Glaskugel zurück in die kleine Kiste mit dem Schaumstoff und drehte sich in den ausgeleuchteten Werkstattraum hinein. Der noch unförmige graue Tonkörper, den sie im letzten Monat um das Drahtgestell modelliert hatte, zeigte van Gogh in einer für ihn eher untypischen Pose. Er gestikulierte, ohne sich dabei an dem obligatorischen Pinsel oder der Farbpalette festzuklammern. Ivy wollte nicht, dass er seine Arme vor der Brust verschränkte oder, wenn er erst einmal angezogen war, die Hände in den Hosentaschen versteckte. Seine Körperhaltung sollte Offenheit und zugleich Unverletzbarkeit demonstrieren. Zu diesem Zweck hatte sie auf Google-Bildern aufmerksam Fotos des Dalai Lama studiert. Eines hatte sie sofort überzeugt. Das, auf dem das Oberhaupt der tibetischen Buddhisten wie eine Ballerina in der vierten Position

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