Leichte Turbulenzen - Roman
wolkenlose Himmel erstreckte sich bis zum flimmernden Horizont, an dem sich Giraffen, Antilopen und Elefanten um ein Wasserloch sammelten. Unter dem Segelflieger galoppierte in wunderschönster Selbstvergessenheit eine gewaltige Zebraherde. Die Programmierung des Bildschirmschoners war Franks letzter nachbarschaftlicher Akt gewesen, bevor er Eve und seine beiden Söhne im Winter allein gelassen hatte. Nichts war ihm anzumerken gewesen, als er fröhlich zu ihr hochgekommen war. »Ivy-Pivy! Ich hab da was für dich! So kannst du dich im Fliegen üben.«
Jetzt galoppierten unter dem Flieger Herden von Antilopen und Elefanten über die grasbewachsene Ebene und wirbelten ordentlich Staub auf. War Desmond in dieser Gegend aufgewachsen? Dann hatte er diese prachtvolle, grenzenlose Schönheit bereits mit eigenen Augen gesehen und trug den glühenden Anblick noch immer in sich. Am Horizont glitzerte das Wasserloch im Abendrot. Würde sie jetzt gleich wieder nach Berlin fliegen müssen, um ihrer Schwester beizustehen? Sollte sie die Krankheit googeln, bevor sie Nathalie anrief? Um sie zu beruhigen? Oder ein paar Bilder von Madagaskar? Es war kurz vor zehn. Das bedeutete, in Berlin war es bereits kurz vor elf.
»Ivy! Oh, danke, dass du anrufst!«
Nathalie saß allein im Wartebereich der Kinderintensivstation. So also sah es auf Krankenhausstationen aus, auf denen Menschen mit dem Tod rangen. Nicht anders als die Entbindungsstation, auf der Nathalie Lucy vor knapp fünf Jahren unter unbeschreibbaren Schmerzen auf die Welt gebracht hatte. Es war, als hätte sich ihr Körper selbst zerquetschen wollen. Sie hörte Ivy fragen: »Wie geht es meinem Lucy-Wurm? Was ist denn los mit ihr?«
Sie zuckte die Achseln, ohne zu antworten. Der einzige Unterschied zum damaligen Klinikaufenthalt bestand darin, dass Peer ihr nun nicht Mut zusprach. Sie saß allein in diesem sterilen Raum, der jedes Mal ein ärgerliches Quietschen ausspuckte, wenn sie mit den Kreppsohlen ihrer Wildlederstiefel über den grauen Linoleumboden streifte. Wenn eine Schwester den Warteraum durchquerte, sah Nathalie auf, in der Hoffnung, dass das Warten, dieses ewige Warten, das einem alle Zeit der Welt raubte, endlich ein Ende hatte. Nicht einmal als Wartender auf der Intensivstation schaffte man es, sich wirklich ernsthafte Sorgen um denjenigen zu machen, um dessen Leben gerade da drinnen mit einer Menge antibiotischer Infusionen gekämpft wurde. Nur wieder über sich selbst zerbrach man sich den Kopf. Womöglich war für dieses Phänomen eine von der Natur eingerichtete Schutzmaßnahme verantwortlich, damit man nicht durchdrehte. Nathalie hatte wirklich alles versucht, mit den Gedanken bei Lucy zu bleiben, die Katheter im Fuß und in den Handrücken stecken hatte, doch es gelang ihr nicht gänzlich. Ihr Mitgefühl rutschte wie loses Gestein einen abschüssigen Geröllhang hinunter, zu Peers Vorleben, zu seinem Verrat, zur Befürchtung, dass es nichts mit der Kinderbuchautorenkarriere werden würde, zu ihrer Kindheit, in der sie – ihrer Ansicht nach – nie genügend gefördert worden war, zu den Schmerzen während der Geburt, zu all den Entbehrungen der letzten Jahre, zum Volvo, mit dem Peer täglich zur Arbeit fuhr, zu ihren Umbauplänen das Arbeitszimmer betreffend, zum strammen Workout, das sie in Zukunft an der Rudermaschine absolvieren wollte, und zu Tamaras verstörtem, flehendem Gesichtsausdruck, als sie Nathalie das Geheimnis über Ivys wahren Vater und den Tod ihrer Mutter offenbart hatte.
Und obwohl sie es besser wusste, gab Nathalie ihrer kleinen Schwester alle Schuld am Tod der Mutter. Denn ohne ihre Geburt wäre es nie zu dem tragischen Ende gekommen. Und womöglich war dies genau der Moment, in dem Nathalie Ivy am Telefon eröffnen würde, dass sie eine gewaltige Wut auf ihre selbstherrliche Art hatte, dass sie nur um sich selbst kreiste und sich niemals um die Befindlichkeit ihrer großen Schwester scherte. Warum auch? Sie hatte ja nie erfahren, was es bedeutete, eine Einzelkämpferin sein zu müssen, weil sich die Welt nicht um einen drehte, sondern um die kleine, besondere Schwester, die nicht einmal denselben Vater hatte. Ivy war mindestens so verwandt mit Tamara wie mit Nathalie. Und mit dieser Einsicht spaltete sich noch mehr Familie von Nathalie ab, noch größer wurde ihre Einsamkeit. Wann hatte Ivy denn überhaupt das letzte Mal wissen wollen, wie es ihr ging?
Mal abgesehen von jetzt gerade. Ihre Stimme klang zart und mitfühlend. »Bist
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