Leichte Turbulenzen - Roman
tapferen Mutter eines schwerkranken Kindes auf der Intensivstation. Mit feuchten Augen schob sie die Tür zum Isolierzimmer auf und sah ihr bleiches, aufgedunsenes Kind mit nacktem Oberkörper im Bett liegen. Das Kopfteil war etwas angehoben. Unter der Decke kam ein Schlauch hervor, der in einem leeren Plastikbeutel endete, in beiden Händen steckten Kanülen. Das war doch nicht ihr Kind!
Die Schwester blieb hinter Nathalie stehen. »Ihre Tochter hat sehr starke Schmerzen. Sie bekommt von uns ein Breitbandantibiotikum und Schmerzmittel. Das wird bald zu wirken anfangen. Haben Sie schon Ihren Mann erreicht?«
Darauf reagierte Nathalie gar nicht. Sie ging um das Bett herum und setzte sich auf den freien Hocker, mit dem sie dicht an Lucy heranrollte. Auf ihrer Brust klebten Saugnäpfe, die mit bunten Kabeln an einer piepsenden Maschine angeschlossen waren. Neben Lucy wurde auf einem Monitor der Herzschlag angezeigt und dann noch einmal auf dem endlosen Papier, das sich langsam und surrend aus einer Art Seismograf herausschlängelte. Die Schwester war aus dem Zimmer verschwunden. Ihre kalte, behandschuhte Hand flirrte über Lucys Haar. »Mein kleines Mädchen. Mein süßer, süßer Wurm. Mama ist hier. Hörst du mich, mein geliebter Lucy-Schatz?« In Nathalies Handtasche klingelte das Handy. Sie nahm ab, obwohl das Telefonieren in den Räumen der Intensivstation strengstens untersagt war. »Peer?«
»Nathalie! Wo seid ihr?« Seine Stimme klang ziemlich gereizt.
Nathalie flüsterte: »Das frag ich dich! Ich kann dir nur sagen, du und ich haben zu reden. Und zwar dringend.« Und bevor sie sich stoppen konnte, kam sie direkt auf den Punkt. »Zufällig habe ich nämlich in deinen alten Schuhkartons ein paar hochinteressante Fotos von Jennys und deinem endlosen Liebesurlaub gefunden.«
»Wovon«, Peer räusperte sich, »wovon sprichst du?«
»Tu nicht so.« Natalie versuchte wirklich alles, um sich zu beherrschen und bei sich zu bleiben. Umsonst. Sie war von dem Hocker aufgestanden und klemmte jetzt zwischen der schwarzen Abfalltüte für die Einweghandschuhe, dem Waschbecken mit dem Desinfektionsspender und dem Kanister für die Flüssigseife. Sie senkte ihre Stimme. »Du weißt genau, wovon ich spreche. Ich bin kurz davor, zu explodieren. Ich fasse nicht, was ich da an Beweismaterial gefunden habe. Ich weiß nicht mal mehr, warum ich überhaupt noch mit dir rede. Eigentlich müsste ich gleich auflegen. Ich kann nicht mit einem unaufrichtigen Menschen zusammenleben. Das geht einfach nicht. Dafür ist mein Leben zu kurz, als dass ich es auf einer Lüge aufbaue.«
»Würdest du dich bitte beruhigen? Wir waren damals zwei Wochen auf Sri Lanka, mehr nicht.«
Nathalie stampfte mit dem Fuß auf. »Schwindel mich nicht an, Peer.«
»Mein Gott! Ich schwindle dich nicht an. Wir haben eine Reise gemacht, ist das so schlimm?« Peer schnaufte. »Hast du nie eine Reise mit einem deiner vielen Freunde gemacht? Was ist mit diesen ganzen gerahmten Fotos, die bei Walter im Regal stehen? Du und dieser ›Pirat‹ in den Rocky Mountains? Du und dieser Muskelberg im Kanu? Wer sitzt denn da auf der Crossmaschine hinter diesem Easy-Rider-Verschnitt? Ich frage mich ja schon, warum diese Bilder da noch stehen müssen. Da steht kein einziges Bild von mir. Ist dir das mal aufgefallen? Ich bin dein Mann!« Peers Stimme überschlug sich. »Hab ich möglicherweise etwas übersehen? Soll mir da etwas mitgeteilt werden? Dass ich auch nur auf der Durchfahrt bei dir bin, wenn ich mich nicht adäquat verhalte? Hab ich noch immer Probezeit? Werde ich mich jemals als anständiger Ehemann bei dir bewähren können? Oder sollte ich mich besser darauf einstellen, dass mir von dir jeden Tag aufs Neue etwas Unglaubliches unterstellt wird und ich mich vor deinem gnadenlosen Ein-Mann-Gericht behaupten und auf Freispruch hoffen muss? Du siehst in mir einen bösen Menschen, dem man nicht trauen kann, nicht wahr? Ich habe gar keine Chance gegen dich und deine Paranoia.«
»Du redest dich gerade um Kopf und Kragen, mein lieber Peer.« Nathalie beobachtete sich im Spiegel, der über dem Waschbecken hing. Sie sah nicht anders aus als sonst. Im Hintergrund dämmerte Lucy mit halb geschlossenen Lidern vor sich hin. Ihr Anblick half, sich unter Kontrolle zu behalten.
»Was tue ich bitte? Seit wir geheiratet haben, lebe ich wie ein Mönch. In totaler Isolation. Dir und deiner Verlustangst zuliebe. Und jetzt muss ich mir auch noch abstruse Vorwürfe anhören, weil
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