Leichte Turbulenzen - Roman
waren: die roten Telefonzellen, die Tower Bridge vor azurblauem Himmel, der rote Doppeldeckerbus, Westminster Abbey, die Scots Guards mit ihren riesigen Bärenfellmützen, der Buckingham Palace und Prince William und seine Kate auf einer grünen Rasenfläche. Ivy war extra früh aufgestanden, obwohl sie sich nachts mehrfach zu den weinenden Jungs von Eve hinuntergeschleppt hatte, um sie mit »Der Mond ist aufgegangen« und »Schlaf, Kindlein, schlaf« zu beruhigen. Was nichts gebracht hatte, nicht einmal, nachdem sie ihnen mit schläfriger Stimme mehrere Bilderbücher mit Soundeffekten vorgelesen hatte. Schließlich hatte sie die beiden verwaisten Jungs mit zu sich nach oben genommen und, in ihre schwarzen Darth-Vader-Umhänge gehüllt, in ihrem Bett schlafen lassen. Sie selbst hatte sich auf ihren gewebten Läufer gelegt und mit dem Bettüberwurf zugedeckt, bis Eve im Morgengrauen an ihre Tür geklopft hatte.
Nun redete schon wieder der nach Luft ringende Willem los, bevor sie überhaupt ihre Mails hatte checken können. »Hey, Chuck! Nimm‘s nicht persönlich. War doch nur ein Scherz. Heute ist der Tag des großen Abschieds, was? Wart ihr beiden gerade dabei, euch Lebewohl zu sagen? Soll ich noch mal raus vor die Tür?«
»Nein, danke!«
»Ich mein’s ernst. Wenn du willst, geh ich noch mal raus.« Ihr Kollege zeigte mit dem Daumen hinter sich auf die ketchuprote Stahltür und nickte auffordernd. »Ist kein Problem. Ich kann mich ja auch nur ganz schlecht von meinen Schützlingen trennen. In den Nächten davor und danach schlafe ich total unruhig. Nachdem sie neulich Jesse James abtransportiert haben, hab ich dir das erzählt?«, Willem fuhr sich ergriffen durchs Haar. »Da bin ich nachts zweimal heulend aufgewacht. Ich kam mir vor wie der kleine Willy, der seine Mama in der jubelnden Menschenmenge beim London Marathon verloren hat und denkt, dass er sie niemals wiederfinden wird.«
»So schlimm ist es bei mir nicht«, bemerkte Ivy trocken. Sie musste sich dringend von Willems Besessenheit distanzieren.
Er zuckte mit den Schultern. »Du hast vollkommen recht. Im Grunde genommen ist es pervers. Da arbeitet man mehrere Monate an diesen Leuten, kennt sie in- und auswendig, aber nie wechseln sie ein Wort mit dir, obwohl du ihnen so nahe bist wie deiner eigenen Mutter. Sie wissen nichts über dich, dabei weißt du alles über sie, sogar welche Form ihre Nasenlöcher haben. Meiner Meinung nach grenzt es an ein Wunder, dass du, Chelsy und ich nicht alle einen an der Waffel haben. Es ist, als säßen wir drei während unserer Arbeitszeit in Isolationshaft. Verstehst du? Das ist das absolute One-Way-Ticket, auf dem wir täglich fahren. In Japan oder so sollen sie ja eine Foltermethode entwickelt haben, bei der sie dem Gefangenen einen Helm aufsetzen, der verhindert, dass die Außenwelt ihn wahrnimmt. Er redet, aber niemand hört ihn. Null Reaktion, egal, wie laut er schreit. So ist es mit uns und den Figuren auch. Sie hören uns nicht. Wenn wir ehrlich sind, wissen sie nicht einmal, dass es uns gibt. Sogar wenn wir die lebenden Originale während tagelanger Sitzungen Zentimeter für Zentimeter vermessen, eine halbe Stunde später löschen sie uns für immer aus ihrem Gedächtnis. Weißt du, mit wie vielen Menschen diese Prominenten tagtäglich zu tun haben? Mit hunderten. Ständig will einer etwas von denen. Autogramme. Interviews. Ein Foto. Die interessieren sich nicht für dich. Dabei sind wir es, die sie verewigen, die ihnen ein bedeutendes Denkmal für die Nachwelt setzen. Das ist bitter. Findest du nicht?«
»Geht so.« Ivy hatte für diese Art von sentimentalem Gespräch keine Kapazitäten frei. Sie wollte nichts hören. 1. Weil sie nicht von Willem geschildert bekommen wollte, wie er nachts in seinem Bett wegen Jesse James weinte. 2. Weil sie es tatsächlich beunruhigend fand, Vincent gehen zu lassen. Es war, als müsste sie sich nicht nur von ihm, sondern auch von der Hoffnung, Desmond je wiederzusehen, verabschieden. 3. Weil sie gestern Nacht nur eine Stunde geschlafen hatte.
Keine zwei Minuten nachdem Eve ihre Jungs in ihren Star-Wars -Kostümen abgeholt hatte, war sie schon wieder zu Ivy nach oben gekommen, um sich ihr katastrophales Date mit Stephen von der Seele zu reden. Ohne Punkt und Komma, eine Zigarette nach der anderen rauchend, hatte sie von dem schwer ambivalenten Stephen erzählt, mit dem sie im Hotel enthemmten Sex gehabt hatte. »Im Stehen, auf dem Sessel, unter der Dusche, und hinterher
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